Europas Medizin gut für Amerika

US-amerikanische Wirtschaftsexperten kritisieren die europäische Sparpolitik. Für Melvyn Krauss lässt diese Kritik vor allem erkennen, dass die europäische Wirtschaft und das Konsumentenverhalten missverstanden werden. Anstatt Europa zu kritisieren wäre Amerika besser beraten, ganz ähnliche Taktiken zu verfolgen.

Veröffentlicht am 13 Juli 2010 um 12:43

Noch bevor man sich zum G20 in Toronto versammelte, schlug US-Präsident Barack Obama Alarm: Die in Europa erneut in Betracht gezogenen Sparprogramme bedrohen den ohnehin zerbrechlichen Wiederaufschwung der Weltwirtschaft.

Präsident Obama sollte sich entspannen und seinen US-amerikanischen neo-keynesianischen Beratern kein Gehör mehr schenken. Die wissen nämlich nur sehr wenig darüber, wie Europa wirklich tickt. Das 80 Milliarden Euro schwere deutsche Finanzkonsolidierungspaket voller Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen wird sich nicht negativ auf den Aufschwung auswirken. Vielmehr wird es diesen sogar beschleunigen, indem es den steigenden deutschen Inlandsverbrauch ankurbelt.

Die US-amerikanischen Wirtschaftsexperten – und selbst die bedeutendsten Vertreter unter ihnen – verstehen Europa völlig falsch, weil sie überzeugt davon sind, dass Amerika die Welt und die Welt Amerika ist. Dies ist die Geschichte des neuen deutschen Sparprogrammes, an welchem der Präsidenten der USA vorbeimarschiert. Eine Geschichte, in der es auch um die Frage geht, warum Obama die deutsche Kanzlerin Angela Merkel besser in die Arme nehmen sollte, anstatt sie auszuschimpfen.

Amerikanische Wirtschaftsexperten meinen, alle Konsumenten verhielten sich wie Amerikaner

Die Deutschen – und nicht nur die Bejahrten unter ihnen – sparen gegenwärtig einen recht großen Teil ihrer Einkommen, weil sie sich das Ausmaß ihres Haushaltsdefizites anschauen und die dahinter lauernde Inflation erkennen. Die hohen privaten Ersparnisse in Deutschland sind demnach eine Folge der niedrigen – und in der Tat negativen – staatlichen Ersparnisse. Indem man das Staatsdefizit reduziert, soll der Inlandsverbrauch angekurbelt werden. Damit würde man genau das erreichen, was die Kritiker von der deutschen Wirtschaftspolitik kritisieren. Was ist also das Problem?

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US-amerikanische Ökonomen wie Paul Krugman – der als Obamas Lieblings-Wirtschaftsexperte gilt und sich jüngst in Berlin einen Namen gemacht hat, indem er Merkels Sparprogramm in ihrem eigenen Revier kritisierte – können dieser Analyse aber nichts abgewinnen, weil sie der Meinung sind, das alle Konsumenten sich so verhalten wie die Amerikaner.

Ja, wenn man den US-Konsumenten noch mehr Geld in die Hände gibt, geben sie dieses auch aus. Und dabei schert sich niemand auch nur im Geringsten um die langfristigen Auswirkungen der stets steigenden Staatsschuld, welche das Geld dafür geliefert hat. Deutsche (und auch niederländische) Konsumenten tun dies aber: Sie machen sich Sorgen und passen ihr Verhalten dementsprechend an. Zudem schätzen sie eine "Stabilitätskultur" mehr als die Amerikaner. Aus diesem Grund können sich Sparpolitik (oder ihr Gegenteil – die Ausgabensteigerung) in Nordeuropa und Amerika ganz unterschiedliche auswirken.

Europäer lassen sich nicht "über einen Kamm scheren"

Die Analysen zahlreicher amerikanischer Wirtschaftsexperten, die versuchen, alle über einen Kamm zu scheren, treffen für europäische Angelegenheiten einfach nicht zu. Hinter der neuen deutschen Sparpolitik schimmert auch die wichtige Frage nach dem wirtschaftlichen Führungsstil durch. Aufgrund der Meinungsverschiedenheiten in Sachen Rettungsschirm und Nothilfepakete verlor Frau Merkel ihre Rolle als europäische Vorreiterin an Frankreich und büßt in Meinungsumfragen nun die Sympathie ihrer Bürger ein.

Um diese wiederzugewinnen muss Deutschland die südlichen Länder – Griechenland, Spanien, Portugal und Italien – dazu ermutigen, ihre Haushaltsausgaben zu reduzieren – auf überzeugende Art und Weise. Will man diesbezüglich glaubwürdig sein, sollte man jedoch mit gutem Beispiel vorrangehen. Wie sollten Deutschland oder die Niederlande von den anderen ärmeren Mitgliedsstaaten drastische Haushaltskürzungen verlangen, wenn sie sich selbst nicht auch einschränkten?

Washington sollte dem wohlwollend gegenüberstehen. Obama will nicht, dass das europäische Verschuldungsproblem nach Amerika überschwappt. Die Vereinigten Staaten und ihre Banken sind ebenso von der Ansteckung gefährdet wie alle anderen. Vielleicht sogar noch mehr. Anstatt den europäischen Führungskräften den Rat zu geben, ihre Sparprogramme nur ganz langsam auf den Weg zu bringen, sollte der Präsident der USA allermindestens seinen Mund halten. (jh)

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