Angesichts der Krise demonstriert Europa Einigkeit. "Wir gehen zusammen unter....!"

Eurostaat oder Bankrott – Brüssel am Spieltisch

Die Rettungsschirme gehen zwar nicht auf, zentralisieren jedoch die Macht auf Kosten der Nationalstaaten, meint der Times-Kolumnist Anatole Kaletsky.

Veröffentlicht am 12 Mai 2011 um 13:56
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Wieder ist ein Jahr ins Land gegangen und wieder stehen Politik und Wirtschaft in Europa auf Kollisionskurs. Vor einem Jahr, am 10. Mai 2010 um 1:00 Uhr, beschloss die EU-Führung den bis dahin wohl mutigsten Schritt in Richtung einer politischen Föderation, mutiger sogar noch als die Einführung der Einheitswährung im Jahr 1999, nämlich die Schaffung eines von allen europäischen Steuerzahlern garantierten Rettungsmechanismus in Höhe von 750 Milliarden Euro. Der Fonds sollte die EU-Mitgliedstaaten davor schützen, eines Tages vor eine so schwierige Wahl gestellt zu werden, wie Griechenland an diesem Abend: Ausstieg aus dem Euro oder Staatsbankrott.

Ein Jahr später ist allen klar, dass der griechische Rettungsschirm nicht aufgegangen ist. Darum soll ganz einfach ein zweiter angelegt werden. Griechenland hat die meisten wirtschaftlichen Vorgaben nicht umgesetzt. 75 Milliarden des 110 Milliarden-Euro-Kredits sind bereits aufgebraucht, und seit letzter Woche ist bekannt, dass Athen für die Schuldentilgung im nächsten Jahr einen zweiten, noch größeren Rettungsschirm braucht. Skeptische deutsche Politiker spielten den Finanzmedien Gerüchte zu, dass Griechenland den Euroraum verlassen müsse, oder dass Athen schon bald zahlungsunfähig sein werde. In der Tat werden die wenigen privaten Geldgeber, die ihre Anleihen noch nicht der Europäischen Zentralbank (EZB) oder dem EU-Rettungsfonds verkauft haben, ihr Geld mit einer 60- bis 75-prozentigen Wahrscheinlichkeit nie wieder sehen. Dessen ungeachtet finden die europäischen Währungshüter und die EU-Kommission die Idee der Zahlungsunfähigkeit oder der Schuldenstundung nach wie vor "undenkbar“.

Die aktuelle Reprise der europäischen Schuldenkrise umfasst allerdings vier neue Elemente. Erstens steht Griechenland nicht allein vor dem Bankrott oder dem Ausschluss aus dem Euroraum, sondern drei, ja vielleicht sogar vier notleidende Länder: Griechenland, Irland, Portugal und wohl auch Spanien. Ferner ist nun langsam allen klar, dass eine Entwertung der griechischen Währung oder der Staatsbankrott eine Kettenreaktion in Irland und Portugal auslösen würde. Der Fall dieser Schuldner könnte auch Spanien und Italien, die ohnehin schon auf wackeligen Beinen stehen, ebenfalls mitreißen.

Zweitens sind die Gesamtkosten zur Stützung von Griechenland, Irland und Portugal für die Steuerzahler in Deutschland und den anderen Geberländern um einiges höher als ursprünglich angenommen, weil der Rettungsfonds letztes Jahr vor allem die privaten Gläubiger der verschuldeten Länder und deren zahlungsunfähigen Banken ausbezahlte.

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Drittens nimmt der politische Widerstand gegen eine weitere Rettungsrunde stetig zu, nicht nur in Deutschland, Finnland, Österreich und den Niederlanden, sondern auch in den notleidenden Ländern. Die 2010 gestartete Rettungsaktion schürt die anti-europäische Stimmung sowohl bei den Schuldnern als auch bei den Gläubigern.

Viertens ist die Weltwirtschaft viel robuster als vor einem Jahr und könnte wohl einen Schuldenerlass verkraften, besonders wenn er richtig durchgeführt wird, und die EU-Staaten die Restschuld zusammen garantieren. Diese Nachricht mag positiv klingen, könnte jedoch von den europäischen Regierungschefs und der EZB anders aufgefasst werden.

Warum weigern die europäischen Politiker und Zentralbanker sich konsequent, Maßnahmen zum Schuldenerlass zu erwägen, und räumen stattdessen Griechenland, Irland und Portugal weiterhin Kredite ein, mit denen letzten Endes nur private Gläubiger bedient werden?

Abgesehen von der Befürchtung, einen Bankenzusammenbruch à la Lehmann Brothers hervorzurufen – diese Gefahr könnte leicht durch einen paneuropäischen Garantiefonds gebannt werden, liegt es im Interesse der EZB, allen bereits vor der bloßen Vorstellung eines Schuldenerlasses Angst einzuflößen. Der Großteil der griechischen, irischen und portugiesischen Anleihen liegt nämlich heute in Frankfurt, und die EZB würde enorme Verluste erleiden, wenn der Wert dieser Schuldverschreibungen massiv sinkt.

Neben den 80 Milliarden Euro, die vollständig ihr gehören, hält die Zentralbank toxische Papiere in Höhe von mehr als 500 Milliarden Euro als Sicherheit für die den griechischen, irischen und portugiesischen Banken gewährten Kredite. Da die meisten dieser Finanzinstitute bei einem Schuldenerlass Insolvenz anmelden müssten, würde die EZB mit faulen Staatstiteln in Höhe von Hunderten Milliarden Euro sitzenbleiben. Das Eigenkapital der EZB beläuft sich lediglich auf 11 Milliarden Euro, d.h. die Bank wäre selbst bankrott. In diesem Fall müssten die EU-Länder ihre Zentralbank retten und es sicher auch tun, aber wohl auf Kosten deren politischer Unabhängigkeit.

Noch leichter zu erkennen ist, warum die EU-Spitze Griechenland, Irland und Portugal ein immer schwereres Schuldenjoch aufbürden will. Wenn diese Länder zu permanenten Schuldnern der EZB und der verschiedenen EU-Rettungsfonds werden, können Brüssel und Frankfurt ihre Macht in zentralisierten europäischen Institutionen auf Kosten der Nationalstaaten ausbauen. Während die EZB und die EU-Kommission heute die nationale Steuer-, Ausgabe- und Sozialpolitik nur in Griechenland und Irland steuern, hat der Rettungsschirm neue Institutionen geschaffen, die allmählich auf die gesamte EU ausgeweitet werden könnten.

Sowohl Euroskeptiker als auch Euroföderalisten prognostizierten 1989, als Jacques Delors erstmals die Einheitswährung vorschlug, und 1999, als der Euro eingeführt wurde, dass der Währungsunion eine Steuerföderation folgen müsste. Die Reise von der Einheitswährung zum politischen Staatenbund läuft zwar in anderen Bahnen als ursprünglich geplant, aber in die gewünschte Richtung.

Die Frage ist nun, ob Europa ans Ziel gelangt, bevor die griechischen und irischen Arbeitnehmer und die deutschen oder finnischen Steuerzahler herausfinden, wohin die Reise geht.

Aus dem Englischen von Claudia Reinhardt

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