Belgien - Ein gemeinsamer Dialog: "Ja, aber..."

Gebrauchsanweisung zur Krisenbewältigung

Dreizehn Monate nach den letzten Wahlen präsentierte der französischsprachige Sozialist Elio Di Rupo seinen Plan, um aus der politischen Sackgasse herauszukommen. Ein Schritt nach vorn, meint die belgische Presse, doch sei die Zukunft des Landes weiterhin unsicher.

Veröffentlicht am 5 Juli 2011 um 14:51
Cecile Bertrand (La Libre Belgique)  | Belgien - Ein gemeinsamer Dialog: "Ja, aber..."

"Elio Di Rupo bricht mit allen Tabus“, jubelt La Libre Belgique. In einem hunderstseitigen [Dokument](http://www.lachambre.be/kvvcr/pdf_sections/home/ 110704_NOTE%20DE%20BASE%20FORMATEUR%20DEF.pdf), dass am 4. Juli König Albert II. vorgelegt wurde, zählt der mit der Regierungsbildung beauftragte Politiker seine Maßnahmen auf, mit denen er die seit mehr als einem Jahr andauernde politische Krisein Belgien zu überwinden gedenkt: Sanierung der öffentlichen Finanzen, Reform des Haushaltspolitik, Aufspaltung des Wahlbezirks Brüssel-Halle-Vilvoorde (BHV), mehr Verantwortung für Regionen sowie wirtschaftlich-soziale Reformen.

Di Rupo "schlägt einen rigorosen Plan zur Haushaltskonsolidierung in Höhe von 22 Milliarden Euro bis 2015 vor“, notiert L’Echo. Das Ziel: Ein ausgeglichener Haushalt sowie das Land aus der Schusslinie der Rating-Agenturen holen.

Auf institutioneller Seite schlägt Di Rupo die Aufspaltung des Bezirks Brüssel-Halle-Vilvoorde vor, wo 150.000 französischsprachige Bürger in 35 flämischen Kommunen leben, was regelmäßig zu Spannungen zwischen beiden Gemeinschaftenführt.

"Es soll drei Wahlbezirke für die Parlaments- und Europawahlen geben: Brüssel-Hauptstadt, flämisches und wallonisches Brabant. Im Gegenzug dazu sollen die Rechte der französischsprachigen Bürger in den sechs Kommunen [in denen sie Sonderrechte genießen] konsolidiert werden. Sie können im Bezirk ihrer Wahl abstimmen, und das Verfahren zur Ernennung eines Bürgermeisters in diesen Kommunen mit Sonderstatus soll erleichtert werden.“ L’Echo fragt sich: "Was wird [die flämische Mehrheitspartei] N-VA sagen, die eine Spaltung ohne Gegenleistung fordert?“

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"Die Stunde der Wahrheit hat nun geschlagen“, schreibt Le Soirund begrüßt einen „ausgewogenen und mutigen“ Text. Die frankophone Tageszeitung fragt sich aber, ob die Strategie erfolgreich sein wird: "Nichts ist weniger sicher. Denn im Norden hinterfragt man bereits das kopernikanische Weltbild dieses Papiers. Verlegt es den Schwerpunkt in Richtung föderaler Einheiten, oder nicht? [...] Nein, werden sicher die flämischen Parteien erwidern, denn die wirklichen Schaltstellen der Entscheidungen werden nicht an in die Regionen übertragen. Richtig. Der Bund behält seine beiden tragenden Säulen. Das Sozialversicherungssystem wird zwar amputiert, sein Herz ist aber nicht getroffen. Und die Kontrolle über die Steuergelder, welche für das Überleben des Landes unerlässlich ist, bleibt in Bundeshand. Falls sich gewisse flämische Parteien erst zufrieden geben sollten, wenn sie diese beiden Trophäen errungen haben, dass sie dies sofort sagen.“

Für La Libre Belgique ist das Papier „vor allem mutig“, was ein gute Sache sei, denn: „Nach mehr als einem Jahr stockender Verhandlungen braucht die Zukunft des Landes Mut.“

Auch die flämische Presse begrüßt den Mut Di Rupos. Der Beauftragte für die Regierungsbildung, erklärt De Morgen, sei "von der griechischen Tragödie“ inspiriert worden:

"Elio ist [aus Griechenland] mit Tränen in den Augen heimgekehrt, derart hatten ihn die drastischen Sparmaßnahmen in Griechenland berührt. Er wurde ihm mehr denn je klar, dass die politische Krise unseres Landes so schnell wie möglich überwunden werden müsse.“

Die Tageszeitung meint, dass es "auf flämischer Seite“ geschickt war, den Katalog mit hauptsächlich konkreten Maßnahmen nicht sofort zu torpedieren. Was darüber hinaus quasi unmöglich gewesen wäre: Das Papier kein Schlusspunkt, sondern die größtmögliche Öffnung, die Rupo machen konnte. "Wer die torpediert, ist raus aus dem Spiel.“

In der Tat, meint De Standaard: "Di Rupo hat [N-VA Parteichef] De Wever strategisch vor die schwierigste Wahl seiner politischen Karriere gestellt. Letzterer hatte seinen Wählern mehr versprochen, und sie halten weiter zu ihm. Doch muss man sich die Frage stellen, ob es jemals wieder eine bessere Gelegenheit geben werde.“

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