Das Erste, was mir am Morgen des 24. Februar 2022 durch den Kopf ging, als ich von Russlands Überfall auf die Ukraine erfuhr, war, dass Putin uns allen in Europa den Krieg erklärt hat und wir in Reichweite eines Atomschlags sind, während meine Tochter im Nebenzimmer schlief. Jeder Krieg ist eine Zeitmaschine und zugleich ein Riss in der Zeit. Plötzlich kehrte die Vergangenheit zurück. Ich rief mir die Ratschläge für richtiges Verhalten bei einem Atomangriff ins Gedächtnis, die man uns in der Schule eingetrichtert hatte. Nichts war hilfreich.
Weder hatte ich eine Gasmaske, die ich mir in siebzehn Sekunden aufsetzen konnte, noch wusste ich, wo sich der nächste Luftschutzraum befand. Die Ratschläge, sich von Fenstern fernzuhalten, um bei einer Explosion Schnittwunden zu entgehen, oder nicht in den Atompilz zu schauen, klangen besonders absurd. Und erwarteten wir früher den Schlag aus dem Westen, fürchten wir ihn jetzt aus dem Osten, von unserem einstigen großen Bruder. Man kommt ganz durcheinander, in welche Richtung man sich auf den Boden werfen soll. Das Schwerste aber blieb, wie ich all das meiner Tochter erklären sollte.
So fühlte sich das damals an, wie das Ende des Alltags. Es gibt einen Moment, in dem sich der Alltag in Geschichte verwandelt, in einen Krieg. Ich stellte mir vor, wie in einer ukrainischen Familie die Kinder aufstehen, um in die Schule zu gehen, und plötzlich wird im Fernsehen gemeldet, dass Krieg herrscht. Alles steht Kopf und stürzt in sich zusammen, wie ein, zwei Tage später die Wohnblöcke – und mit ihnen die Küchen, in denen die nicht aufgegessenen Brote liegen geblieben sind.
Welches war das glücklichste Jahrzehnt?
Vor vier Jahren schrieb ich den Roman „Zeitzuflucht“, in dem das Gefühl eines Defizits an Zukunft dazu führt, dass die Staaten Europas Vergangenheitsreferenden abhalten wollen. Referenden sind eigentlich auf die Zukunft ausgerichtet. Im Roman soll jedes Land sein glücklichstes Jahrzehnt im zwanzigsten Jahrhundert wählen, was bei den einen erschwert wird, weil es viele glückliche Varianten gibt, bei anderen, weil es nicht eine einzige gibt. Deutschland wählte die Achtzigerjahre, die mit dem Fall der Mauer endeten, Italien die Sechziger, für meine Heimat Bulgarien ist alles etwas komplizierter. Aber nun sind wir alle an einen Moment angelangt, in dem auch wir nur noch zurückblicken in die Vergangenheit. Das Defizit an Zukunft erschließt immer riesige Vorkommen an Nostalgie. Heute erleben wir, wie die Vergangenheit den Kontinent regelrecht flutet. Die Zeit löst den Raum ab. Die Welt ist aufgeteilt, eingekreist, zu eng für unsere Seelen, um Angelus Silesius zu paraphrasieren. Uns bleibt der unermessliche Ozean an Zeit, der eigentlich ein Meer an Vergangenheit ist. Damit hat sich auch die Idee von Nostalgie verändert.
Es ist nicht mehr die Sehnsucht nach einem bestimmten Ort oder Zuhause, worauf die Etymologie des griechischen Wortes nóstos hinweist. Die Nostalgie richtet sich auf eine andere Zeit. Vielleicht müssten wir einen anderen Begriff wie etwa „Chronostalgie“ verwenden. In diesem Sinne sind unsere Kriege zu Kriegen um Vergangenheit geworden.
Seit den 1980er Jahren und der Finanzialisierung der Wirtschaft haben uns die Akteure der Finanzwirtschaft gelehrt, dass sich hinter jeder Gesetzeslücke eine kurzfristige Gewinnmöglichkeit verbirgt. All das und mehr diskutieren wir mit unseren Investigativ-Journalisten Stefano Valentino und Giorgio Michalopoulos. Sie haben für Voxeurop die dunklen Seiten der grünen Finanzwelt aufgedeckt und wurden für ihre Arbeit mehrfach ausgezeichnet.
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