Ein Ratspräsident. Ein Hoher Vertreter. Werden sie auf dem internationalen Parkett genauso unsichtbar sein wie die Verhandlungen zu ihrer Designation? Foto: Tiago Cabral

Hinter geschlossenen Vorhängen

Die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Länder bestimmen am 19. November diejenigen, die den Vorsitz des Rates und der Diplomatie der EU haben werden. Das jedoch, was eine wichtige Etappe der europäischen Integration hätte sein sollen, gleicht nun vielmehr undurchsichtigem Feilschen, bedauert die Presse.

Veröffentlicht am 18 November 2009 um 16:44
Ein Ratspräsident. Ein Hoher Vertreter. Werden sie auf dem internationalen Parkett genauso unsichtbar sein wie die Verhandlungen zu ihrer Designation? Foto: Tiago Cabral

Mann oder Frau? Von den Rechten oder den Linken? Eine Persönlichkeit, die im Rampenlicht steht oder eher diskret ist? Am Vorabend des inoffiziellen Gipfels der Spitzenpolitiker der Europäischen Union in Brüssel überschlagen sich die Spekulationen um die Frage, wer wohl Präsident des Europäischen Rates und Hoher Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sein wird. Die Staats- und Regierungschefs werden sich im Verlauf des Abendessens einigen müssen. In ihren Händen liegen "das Brot und das Messer" [rumänischer Ausdruck für denjenigen, der die Macht in den Händen hält], mithilfe derer sie die wichtigsten Posten der EU vergeben müssen. Dies berichtetdie Jurnalul National und erklärt, dass "die heißen Drähte zwischen den Regierungschefs zu Höchsttemperaturen aufgelaufen sind", um sich zwischen den europäischen Hauptstädten auf "einen gerechten Kompromiss" zu einigen.

In Madrid stellt El País dagegen fest, dass "sich der Wahlprozess des EU-Präsidenten so sehr in ein Chaos verwandelt hat, dass man in Brüssel nun sogar daran zweifelt, dass der Gipfel am Donnerstag zu Ergebnissen führt". Der Standaard meint ironisch "Wir danken dem Land, welches gerade die EU-Ratspräsidentschaft innehat: Schweden". Die belgische Tageszeitung ist überzeugt, dass die schwedische Regierung am vergangenen 9. November, als sich die Spitzen in Berlin versammelt hatten, "gezögert und diesen historischen Moment an sich vorbeiziehen lassen hat", anstatt "das erste Puzzleteil an den richtigen Platz zu legen". Anschließend wies der Außenminister Carl Bildt am 16. November die Frage von sich, indem er eine klischeehafte Antwort gab: "Es bleiben uns noch drei Tage. Politisch gesehen ist das fast eine Ewigkeit". Die Auswahlprozedur ähnelt nun mehr und mehr "einer Runde Flipper", befürchtet die Zeitung.

"Die EU muss aufhören, wie die Sowjetunion zu funktionieren"

[Im Daily Telegraph beklagte](http:// http://www.telegraph.co.uk/news/worldnews/europe/eu/6556379/Latvian-candidate-for-EU-President-says-selection-process-is-Soviet.html) sich heute ein osteuropäischer Diplomat, dass "der Versuch zu erraten, wer der Präsident des Europäischen Rates sein wird, nichts anderes ist als das, was man in den siebziger Jahren veranstaltete. Damals wollte man entschlüsseln, wer im Kreml bevorzugt und wer in Ungnade gefallen war. Für viele von uns ist es seltsam, dass wir unser Kremelogie-Know-how zwanzig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer hier in Brüssel wieder hervorkramen müssen". Für die estnische Tageszeitung Postimees erklärt sich diese Situation dadurch, dass es in Europa keine öffentliche Meinung gibt.

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Bisher haben erst drei Personen ihre offizielle Bewerbung eingereicht: Der Favorit ist der Luxemburger Regierungschef Jean-Claude Juncker. Neben ihm haben sich auch zwei Balten beworben: Die Lettin Vaira Vīķe-Freiberga und der estnische Staatspräsident Toomas Hendrik Ilves. Polen hat (bevor man sich zurückgezogen hat) hingegen offiziell darum gebeten, dass alle Bewerbungen öffentlich gemacht werden und dass man Anhörungen organisiert. Diesen Vorschlag hat auch Vaira Vīķe-Freiberga unterstützt und die EU dazu aufgerufen, "damit aufzuhören, wie die Sowjetunion zu funktionieren". Kein Zufall ist es, dass es die "drei neuen Mitgliedsstaaten" sind, welche die europäischen Gewohnheiten infrage stellen. "Sie haben die Methode, die sie übernehmen sollen, noch nicht verstanden", kommentiertder Volkskrant. "In der diplomatischen Arena löst dieses Verhalten vor allem hinterhältiges Gelächter aus", fügt die niederländische Tageszeitung hinzu. Für sie haben die neuen Mitgliedsstaaten "nicht ein halbes Jahrhundert in Brüsseler Wasser gebadet und glauben noch immer daran, dass die Union eine Union ist".

Achtung vor Gorillas im Nebel

Dass die Mehrheit der Bewerber es vorzieht, "im Schatten zu handeln", lässt sich auch dadurch erklären, dass der Kreis derjenigen, welche die Personen an die Spitze der EU wählen, "nur aus siebenundzwanzig Personen besteht", entschlüsselt Libération die Situation. "Seine Entscheidung wird vor allem das Ergebnis eines heiklen geographischen, politischen und zwischen Männlein und Weiblein gleichberechtigten Gleichgewichts sein. Die persönlichen Qualitäten der Bewerber stehen dabei an zweiter Stelle. […] Die Machenschaften spielen sich also hinter verschlossenen Türen ab und die schwedische EU-Ratspräsidentschaft macht nicht gerade ein Geheimnis daraus, dass diese außergewöhnlich kompliziert sind."

Für Die Presse gibt es genau dafür einen ganz einfachen Grund: "Niemand darf sein Gesicht verlieren". "Nichts wäre für diese politischen Alphatiere […] peinlicher, als vorab als Kandidat für einen der EU-Posten gehandelt zu werden, um dann leer auszugehen", analysiert die Wiener Tageszeitung die Lage und bezeichnet die europäischen Politiker als "Gorillas im Nebel".

In ihrem Leitartikel bedauert Libération, dass die in Brüssel versammelten Staats- und Regierungschefs bereit sind, "Ektoplasmen" die zwei Ämter zu überlassen, von denen sie befürchten, dass sie zu wichtig werden könnten. "Das ist so als ließe man das Rad der Geschichte über einen immer stärker miteinander verflochtenen Planeten rückwärts laufen", warnt die Tageszeitung. "Die Designation des Ratspräsidenten und den Hohen Vertreters hätte ein Schritt in die Richtung von mehr Integration sein sollen." Das sich gerade einrichtende Europa funktioniert aber vor allem über seine Beziehungen zwischen den einzelnen Regierungen. Damit geht es paradoxerweise aber genau in die falsche Richtung, denn die Logik des Vertrages von Lissabon ist eine ganz andere.

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