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Im Wahn des "Immer-mehr-Europa"

In Anbetracht des Bankrott-Risikos der höchstverschuldeten EU-Mitgliedsstaaten haben die EU-27 Gegenmaßnahmen ergriffen, die in die Richtung einer tieferen Integration gehen. Doch wieder einmal wurden die Schritte eingeleitet, ohne vorher die Meinung der Europäer eingeholt zu haben, bedauert Público.

Veröffentlicht am 5 Juli 2010 um 11:23

Die Europäische Union erlebt momentan einen antidemokratischen Umsturz und anscheinend hat niemand etwas daran auszusetzen. Weder in Portugal noch in den meisten anderen europäischen Ländern. Nur in Großbritannien, wo die Demokratie am ältesten und am tiefsten verankert ist, protestiert man und wehrt sich. Übertreibe ich? Ich denke nein.

Was ich einen transeuropäischen Umsturz nenne – und ich wähle meine Worte sehr genau – besteht aus dem Versuch, die nationale Souveränität zu brechen, die gegen das fein ausgeklügelte Gleichgewicht des Vertrags von Lissabon verstößt und die Bedeutung der nationalen Parlamente herabsetzen wird. Die Maßnahmen werden der Öffentlichkeit als wichtige Schritte zu "mehr Europa" und wie eine erste Verwirklichung einer paneuropäischen "Wirtschaftsregierung" präsentiert. Doch die Wählerschaft wird zu keinem Zeitpunkt dazu aufgefordert zu wählen. Sie hat nicht einmal ihren Willen kundgetan, wählen zu wollen.

Europa aufgerieben zwischen Föderalisten und den Wählern

Nach dem Grundsatz, dass man auf halber Strecke nicht anhält, bereitet man sich darauf vor, einen Schritt zu machen, der größer ist als das Bein lang. Einen dieser Schritte, die Europa zusammenbrechen lassen könnten, aufgerieben von dem unversöhnlichen Gegensatz zwischen den föderalistischen Politikern und den Wählern, die sich im Raum und in den Regeln der unterschiedlichen nationalen Demokratien nicht mehr zurechtfinden.

Es gibt keine Übereinstimmung zwischen dem Raum, in dem die Bürger glauben, etwas zu sagen zu haben (der, ob es einem nun gefällt oder nicht, immer noch der Nationalstaat ist und dies auch bleiben wird), und dem Bereich, in dem immer mehr Entscheidungen getroffen werden, die vom Volk immer weniger geschätzt werden.

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Ein Europa ohne Amtsenthebungsverfahren ist undemokratisch

Die Europäische Union versagt in der wichtigsten demokratischen Bewährungsprobe: Sie versteht es nicht, auf friedliche Weise ihre eigene Regierung abzusetzen. Gewiss kann das Parlament die Kommission ihres Amtes entheben, aber nicht den Rat. Außerdem wählt niemand seine europäischen Parlamentsabgeordneten im Hinblick darauf, wer der nächste Kommissionspräsident sein wird.

Dies ist absolut kein nichtiges Problem, das leicht mit "Kühnheit", "Mut" und einer "Vision" der europäischen Wortführer überwunden werden könnte, die es angeblich gar nicht gibt. Es handelt sich hierbei um ein zentrales Problem, denn man kann nicht zu mehr politischer Einheit gelangen, ohne gleichzeitig mehr Macht abzugeben, so wie es auch keine ernstzunehmende "Wirtschaftsregierung" ohne ein echtes europäisches Budget geben kann.

Wirtschaftsregierung nur mit Budgeterhöhung

Wir mögen hinsichtlich des symbolischen Gewichts noch zögern, die Staaten dazu zu verpflichten, ihre Budgets nicht nur ihrem nationalen Parlament vorzulegen, sondern zunächst einmal Brüssel (allerdings weiß niemand, wem in Brüssel). Wir mögen immer noch in der Illusion leben können, dass die wahren Chefs der Union die gemeinsamen Institutionen sind und nicht die mächtigsten Mitgliedsstaaten – allen voran Deutschland. Wir mögen das Risiko ignorieren wollen, dass die großen Staaten ein Übergewicht haben und dadurch nationalistische Reaktionen hervorrufen können: Was wir aber nicht ignorieren können, ist die Unmöglichkeit, das europäische Budget zu erhöhen. Denn die Mehrheit oder sogar alle Staaten und ihre Völker würden dies auf kurze Sicht ablehnen.

Das durch die Krise zum Vorschein gekommene Grundproblem besteht darin, dass die Staaten, wenn sie die Kontrolle über ihre Geldpolitik verlieren, keine Möglichkeit mehr haben, sich schnell wieder von einem Verlust der Wettbewerbsfähigkeit ihrer Wirtschaft zu erholen. Innerhalb einer Währungsunion kann dies nur über den Weg von internen Transfers von Ressourcen zugunsten der Regionen und Länder zu lösen sein, die von sogenannten "asymmetrischen Schocks" getroffen wurden. Leider braucht man für solche internen Transfers, die einer Krisenregion oder einem Krisenland helfen könnten, ein Budget, das weitaus höher ist als der derzeitige Prozentsatz von 1,23 Prozent des BIP der EU.

Maßnahmen gegen Staatsbankrotte entfremden die Länder voneinander

Wenn doch die europäischen Wortführer ihren überzogenen Stolz ablegten, dann könnten sie sehen, dass durch ihre Hinwendung zum IWF (oder einer gleichwertigen Institution) ein Gesundheitsvorteil für die europäischen Demokratien entsteht: Ein Eingriff dieser Art würde die nationale Souveränität nur kurzfristig beeinträchtigen, im Gegensatz zu unumkehrbaren Souveränitätsübertragungen, wie sie derzeit in Betracht gezogen werden. Einige Länder wie Griechenland, Portugal und Spanien sind auch durch eigenes Verschulden in die Situation geraten, in der sie sich jetzt befinden. Man könnte fast soweit gehen zu sagen, dass sie es verdient haben, einen Aufpasser (oder noch mehr) in ihrem Finanzministerium zu haben.

Aber der Schaden, der durch die Krise der Staatsverschuldung entstanden ist, hätte nicht zu voreilig ergriffenen Maßnahmen führen dürfen, die ganz im Gegensatz zu dem, was ihre Verfechter behaupten, eher dazu führen, die Länder der Union einander zu entfremden als zur Stärkung ihre Wirtschaftsraumes beizutragen. Ein Raum, dessen großer Erfolg immer die wirtschaftliche Integration und dessen schlimmste Niederlage die Träumerei war, sich in eine neue politische Supermacht zu verwandeln. Man sollte sich vielleicht ins Gedächtnis rufen, dass Krisen nicht nur Anlass bieten, schneller auf dem vorgezeichneten Weg voranzuschreiten; sie geben genauso Anlass, einen neuen Weg einzuschlagen. (sd)

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