Nur wenige würden bestreiten, dass die ersten Jahre des Internets vielversprechend waren. Allerdings gibt es Meinungsverschiedenheiten dazu, wann genau diese frühen Jahre endeten. Der Arabische Frühling im Jahr 2011 galt weithin als eine Revolution der sozialen Medien: Die demokratisierende Kraft des Web konnte Aktivisten und freiheitsliebende Bürger in die Lage versetzen, Diktatoren zu stürzen.
Etwa zur gleichen Zeit demonstrierte WikiLeaks die Fähigkeit des Internets, den Bürgern zu helfen, die Mächtigen zur Rechenschaft zu ziehen. Informationen verbreiteten sich immer schneller über Grenzen hinweg – so gelang es einigen umstrittenen Websites wie Gigapedia und Sci-Hub, das Wissen zu demokratisieren, indem sie Wissenschaftlern und Universitätsstudenten in Entwicklungsländern Zugang zu Büchern und Artikeln ermöglichen, die andernfalls hinter den Bezahlschranken von Verlagsmonopolen verschlossen wären.
Diese Beispiele sind jedoch bei weitem nicht repräsentativ für das Internet, seine Macht und seinen Einfluss insgesamt. Das Netz hat nicht nur die von Kommentatoren geäußerten großen Hoffnungen nicht erfüllt, sondern war für eine Reihe marktbeherrschender Akteure auch ein Mittel zur Konzentration von Vermögen und zur Unterwerfung marginalisierter Gemeinschaften.

Das kürzlich erschienene Buch Internet for the People. The Fight for Our Digital Future (Verso Books. 2022), des amerikanischen Tech-Journalisten Ben Tarnoff beginnt mit einer historischen und materiellen Bewertung des Internets. Der Autor erklärt, wie politische Entscheidungen (z. B. bezüglich der militärischen Stärke im Kalten Krieg oder der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit in den 1990er Jahren) sowie die Infrastruktur und die physischen Standorte von Computern und Kabeln eine wichtige Rolle dabei spielen, wie Milliarden von Computern miteinander kommunizieren und wie das Netz der Netze wiederum die Funktionsweise der Gesellschaft prägt.
Das Internet, wie wir es kennen, hätte ohne öffentliche Gelder nicht entstehen können. Tatsächlich bestehen immer noch zahlreiche Verträge zwischen dem US-Militärapparat und dem Silicon Valley. Von den späten 1950er Jahren bis in die 1980er Jahre oder sogar darüber hinaus wäre der private Sektor niemals in der Lage gewesen, die Art von Risiken zu tragen, die die Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA) in den 1960er und 1970er Jahren eingegangen ist, und die Arbeitskräfte zu beschäftigen, die für die Verwirklichung dieses Projekts erforderlich waren. Unterstützt durch die langfristige Perspektive einer Regierungsbehörde der Vereinigten Staaten und frei von Marktzwängen entstand das frühe Internet als Produkt eines fruchtbaren, jahrzehntelangen Mitgestaltungsprozesses von Tausenden engagierter Forscher.
Während einige Liberalisten dies als Verschwendung von Steuergeldern ansehen könnten, weist Tarnoff auf die beiden großen Vorteile dieser öffentlichen Eigentümerschaft und Finanzierung des Projekts hin: Zum einen schützte sie das Vorhaben vor unrealistischen Rentabilitätsanforderungen, und zum anderen setzte die DARPA eine „Open-Source-Ethik“ durch, was bedeutete, dass die an dem Projekt arbeitenden Forscher die Quellcodes all ihrer Kreationen gemeinsam nutzten. Das gab anderen die Möglichkeit, einen Beitrag zu leisten und förderte die Kreativität.
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In den 1980er Jahren beteiligte sich eine weitere öffentliche Einrichtung, die National Science Foundation, an dem Projekt. Sie verfolgte das Ziel, mehr Menschen außerhalb der militärischen und experimentellen Netze ins Internet zu bringen. So entstand das NSFNET, die Grundlage eines neuen nationalen Netzes: die wichtigsten Datenrouten zur Verbindung der Netze, die das Rückgrat des Internets bildeten.
Privatisierung und Zugang zum Verkauf
Die Privatisierung dieses – bis dahin stark subventionierten – Netzes war immer vorgesehen, aber sie erfolgte in einer weitaus extremeren Form als geplant. 1995 stellte NSFNET den Betrieb seines eigenen Backbone-Netzes ein und machte den Weg frei, damit private Akteure diese Rolle übernehmen konnten. Die Idee war, gleiche Bedingungen zu schaffen und den Boden für den Wettbewerb zwischen privaten Dienstleistern zu bereiten. Da jedoch nur eine Handvoll privater Unternehmen über die Mittel zum Betrieb eines Backbone-Netzes verfügte, verwandelte sich das ehemalige staatliche Monopol in ein Oligopol von fünf Telekommunikationsunternehmen. Im neuen Jahrtausend kamen Tech-Giganten wie Alphabet und Meta hinzu, die massiv in Unterseekabel und den Aufbau eigener Backbones investierten. Diese Telekommunikationsunternehmen und die Internetdienstleister, die Internetverbindungen an die Bevölkerung verkauften, wurden bald zu den „Slumlords des Internets“: Sie verlangten von den amerikanischen Nutzern hohe Gebühren, versäumten es aber, diese in eine bessere Infrastruktur zu investieren. Infolgedessen verschlechterte sich der den Verbrauchern gebotene Service mit der Zeit.
Aber warum hat der Wettbewerb seine Versprechen nicht gehalten? Laut Tarnoff wird der Internetzugang von seinen Anbietern immer noch als Luxusgut behandelt, obwohl er für das Leben der Bürger so wichtig geworden ist wie Wohnraum und Gesundheitsversorgung: „Die Menschen haben keine andere Wahl, als ihn zu konsumieren“. Wenn es vorher nicht klar war, hat die Pandemie es unbestreitbar gemacht: Das Internet ist nicht nur ein Ort für Geselligkeit und Freizeit, sondern vor allem ein Mittel zum Arbeiten, Studieren und zur Erledigung von Verwaltungsangelegenheiten geworden. In einer solchen Situation macht der Wettbewerb nur für Kunden des oberen Marktsegments Sinn, die einen Aufpreis für bessere Qualität zahlen können, während diejenigen, die arm sind oder in abgelegenen Gebieten leben, in denen die Infrastruktur teuer ist, als zu lästig angesehen werden, um sie zu bedienen.
Die „verlorene Digitalisierung“ der EU
Das hier beschriebene Problem ist in vielen EU-Mitgliedstaaten nur allzu bekannt, wo ländliche Gebiete den Anschluss an die Digitalisierung verpassen. Im Jahr 2021 hat die Europäische Kommission geschätzt, dass „nur 60 Prozent der ländlichen Haushalte in der EU einen Hochgeschwindigkeits-Internetzugang haben, verglichen mit dem Gesamtdurchschnitt der EU von 86 Prozent.“ In Deutschland beispielsweise berichteten die Medien , dass Menschen, die außerhalb der Städte leben (vor allem im ehemals sozialistischen Ostteil des Landes), weiterhin von ihren Büros aus arbeiten müssen, da die alten Kupferleitungen ein Arbeiten von zu Hause aus nicht möglich machen. Auch hier scheint der Grund in der Privatisierung des Telekommunikationssektors zu liegen: Die Versorgung der innerstädtischen Nutzer mit Glasfaserkabeln wurde von den Dienstleistern als rentabel genug erachtet, nicht aber die Ausweitung dieses Angebots auf die Landbevölkerung.
Der nächste Schritt: Verkauf von Online-Aktivitäten
In den 2000er Jahren wurden die dominierenden Unternehmen des Internets zu den so genannten Plattformen, die sich dafür entschieden, die Aktivität statt des Zugangs zu monetarisieren. Indem sie ihre Dienste als Online-Plattformen bezeichnen, können sich Unternehmen wie Meta und Alphabet als offene und neutrale Räume präsentieren. Sie wollen angeblich dazu dienen, die Online-Aktivitäten der Nutzer zu unterstützen und ihnen zu helfen, sich für ein größeres Wohl zusammenzuschließen, so wie sie es während der pro-demokratischen Aufstände weltweit getan haben. In Wirklichkeit versuchen die Anbieter jedoch, die Online-Aktivitäten der Nutzer zu beeinflussen und auszubeuten.
Tarnoff stellt fest, dass eBay der erste große (und vergleichsweise harmlose) Akteur war, der verstand, dass das Internet nicht nur ein digitales Schaufenster, sondern ein soziales Medium ist, das den Nutzern einen gemeinsamen Marktplatz bietet. Anstatt zu versuchen, ein Produkt aggressiv zu verkaufen, war eBay (und sein Vorgänger AuctionWeb) scheinbar nur ein Vermittler zwischen Käufern und Verkäufern, der viele Aktivitäten zur Erleichterung des Verkaufs kostenlos durchführte.
Tarnoff stellt sich ein Internet vor, das aus einer Reihe dezentraler Plattformen besteht, deren Server unabhängig voneinander betrieben werden, aber über offene Protokolle miteinander verbunden werden können
Mit der Zeit kam zur Rolle des Vermittlers und Nutznießers von Netzwerkeffekten die eines Oberhaupts hinzu, das das Verhalten der Menschen mit Regeln und Algorithmen steuerte, um Betrug und Missbrauch der Plattformen zu vermeiden, aber auch um die Rentabilität weiter zu steigern. So wurde eBay – einer der wenigen Überlebenden des Dot-Com-Crashs der Jahre 2000-2001 – zum Vorbild für viele der nachfolgenden Plattformen.
In den späten 2000er-Jahren und vor allem in den 2010er- und 2020er-Jahren haben die Anbieter von Plattformdiensten wie Google, Facebook, Twitter und TikTok immer ausgefeiltere Online-„Einkaufszentren“ für ihre Nutzer geschaffen. Diese können sich dort in einer kontrollierten Umgebung tummeln und merken oft nicht einmal, dass sie Anstöße von Algorithmen oder menschlichen „Moderatoren“ erhalten. Unterdessen erzeugen fast alle ihre Aktivitäten Daten, die zu Geld gemacht werden können. Wie der Autor es ausdrückt: „Daten sind ihr Organisationsprinzip und wesentlicher Bestandteil“.
Die Übel des Internets als Einkaufszentrum
Die riesigen Datenmengen, die von diesen „Online-Einkaufszentren“ gesammelt wurden, haben die Entwicklung einer Reihe neuer Geschäftspraktiken im Internet vorangetrieben. Obwohl sie häufig mit Eingriffen in die Privatsphäre der Nutzer, dem Sammeln von Daten und dubiosen (und oft unrealistischen) Versprechungen darüber, was ihre Dienste zu leisten imstande sind, aufgebaut wurden, ist es den „Online-Einkaufszentren“ gelungen, Geld von Investoren und anderen großen Unternehmen anzuziehen. Das flagranteste Beispiel ist der auf Überwachung basierende Werbedienst, den viele Plattformen anbieten. Obwohl sich die Anzeichen für eine Online-Aufmerksamkeitskrise mehren, erzielen Google, Facebook und einige wenige andere Tech-Giganten den Großteil der weltweiten Werbeeinnahmen. Ein weiteres bekanntes Beispiel ist Uber, das Fahrdienst- und Lieferunternehmen, dessen Dienste Arbeitnehmer zu algorithmisch gesteuerten Lohnsklaven machen. Das Unternehmen verliert weiterhin jedes Jahr Milliarden von Dollar, doch die Investoren stecken immer noch Geld hinein.
Das plattformbasierte Internet, das wie ein Einkaufszentrum funktioniert, ist weit entfernt von der Ermächtigung, dem demokratischen Zugang und der horizontalen Verbindung, die in den Anfängen versprochen wurden. Die Inklusion wird dort größtenteils von Profitgier bestimmt. Randgruppen erhalten zwar mehr Möglichkeiten, am digitalen Umfeld teilzuhaben als dies in der Welt vor den Plattformen der Fall war, aber ihre Ausbeutung geht unter diesen neuen Bedingungen weiter, denn die Arbeitnehmer müssen viele Risiken übernehmen, die früher von den Arbeitgebern getragen wurden.
Ein weiterer Aspekt der Profitgier von Plattformen tritt in den Vordergrund, wenn wir anstatt nur nach dem „Wie“ auch nach dem „Wer“ der Beteiligung an Plattformen fragen. Soziale Medien verstärken rassistische Inhalte, Propaganda und Verschwörungstheorien aus dem einfachen Grund, dass sie mehr Traffic und stärkeres Engagement der Nutzer erzeugen.
Ist noch etwas zu retten?
Tarnoff ist davon überzeugt, dass die Quelle all dieser Probleme die in seinem Buch beschriebene, gewinnorientierte Entwicklung des Internets ist, die das Verhalten der dominierenden Online-Akteure in den letzten zwei Jahrzehnten geprägt hat. Um einen Wandel herbeizuführen, müssen die grundlegenden Ursachen angegangen werden, damit normale Menschen endlich sinnvoll an der Online-Umgebung teilhaben können.
Als mögliche Lösungen empfiehlt er Maßnahmen zur Zähmung des Internets und zur Schaffung echter öffentlicher Räume. Der gesunde Menschenverstand legt nahe, neue Regeln zu erlassen oder die Marktmacht der marktbeherrschenden Akteure zu verringern. Unter Präsident Joe Biden sind in den USA zwei Befürworter einer verstärkten Kartellrechtsdurchsetzung in den Vordergrund getreten: Die Rechtswissenschaftlerin Lina Khan wurde zur Vorsitzenden der Federal Trade Commission ernannt, und der Kartellrechtler Jonathan Kanter wurde stellvertretender Generalstaatsanwalt des Justizministeriums.
In der EU bemüht sich die Kartellbeauftragte der Europäischen Kommission, Margrethe Vestager, seit einigen Jahren intensiv, die Marktmacht der Tech-Giganten zu begrenzen. Der Digital Services Act der EU geht zwar vielleicht nicht weit genug, hat aber die Regeln für die großen Online-Anbieter verschärft. Gleichzeitig ist Tarnoff der Ansicht, dass kartellrechtliche Maßnahmen, auch wenn sie gut konzipiert sind, allein nicht ausreichen, da sie letztlich den Wettbewerb auf dem Technologiemarkt verschärfen und damit die Situation noch verschlimmern.
Eine geringfügige Zunahme der Zahl der Akteure kann einen Überwachungskrieg entfachen, in dem die Plattformen alles tun dürften, um die Menge der Daten, die von den Nutzern gewonnen werden können, zu erhöhen. Damit würden alle Bemühungen zur Mäßigung von Inhalten oder Initiativen mit dem Ziel, das Leben der Online-Gemeinschaften zu verbessern, untergraben.
Tarnoffs Antwort wäre die Entprivatisierung des Internets: Auf der Grundlage einiger kartellrechtlicher Maßnahmen würde er Alternativen zu den derzeitigen Plattformen anbieten. Er stellt sich ein Internet vor, das aus einer Reihe dezentraler Plattformen besteht, deren Server unabhängig voneinander betrieben werden, aber über offene Protokolle miteinander verbunden werden können. Paradebeispiele für dieses Modell sind das soziale Netz Mastodon und die kleinen Online-Gemeinschaften, mit denen Ethan Zuckerman an der Universität von Massachusetts experimentiert.
Das Ziel wäre, dass die Mitglieder der Gemeinschaft selbst über die Regeln für ihre Interaktionen entscheiden, gemeinsam Gemeinschaftsrichtlinien durchsetzen und sogar Entscheidungen über die Verwendung der Daten treffen, die durch ihre Aktivitäten entstanden sind. Letztlich wäre dies ein neuer Ansatz für das Internet, bei dem die Nutzer zu echten Mitgestaltern werden.
So verlockend dieses Gedankenexperiment auch klingen mag, im Moment ist es schwer vorstellbar, wie dieses entprivatisierte Internet Realität werden könnte. Es würde den Rahmen dieses Buches sprengen, zu beurteilen, wie die politische Dynamik für Veränderungen im digitalen Umfeld geschaffen werden kann. Klar ist jedoch, dass wir noch nicht einmal nahe daran sind. Sowohl in Europa als auch in den USA fordern Politiker die Zerschlagung von Tech-Monopolen. Joe Biden sprach offen darüber, dass Tech-Giganten zu den übermäßigen Todesfällen während der Pandemie beigetragen haben, und das Europäische Parlament gab der Facebook-Whistleblowerin Frances Haugen eine Plattform. Trotz allem bleibt die Position der Tech-Giganten auf beiden Seiten des Atlantiks weitgehend unangefochten.
Diese Unternehmen verfügen über eine übermäßige Lobbymacht, und Alphabet, Meta oder Amazon werden sich nur dann an die von den Regulierungsbehörden aufgestellten Regeln halten, wenn sich diese mit ihren Gewinnmotiven vereinbaren lassen. Gesetzgebungsvorschläge wie der Digital Services Act können bis zu einem gewissen Punkt Abhilfe schaffen, aber sie sind keine Wunderwaffe. Langfristig müssen Politiker, politische Entscheidungsträger und Philanthropen weiter gehen, eine Bestandsaufnahme dessen machen, was an der Basis getan wird, sich mit Tech-Aktivisten zusammenschließen und anerkennen, dass es wichtig ist, in die Alternative zu investieren: demokratisch gesteuerte Online-Dienste, die zu dem führen können, was Tarnoff „ein Internet, in dem Märkte weniger wichtig sind“ nennt.
👉 Originalartikel auf Green European Journal
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