Opinion Islamistischer Anschlag in Wien

Der Terror schlägt im Herzen Europas zu

Die Tatsache, dass der Terror des 21. Jahrhunderts nun auch Wien heimgesucht hat, sollte niemanden überraschen. Der Angriff am Abend des 2. November beschwört sowohl die Geschichte als auch die brennende Aktualität herauf. Wie so oft in dieser Stadt.

Veröffentlicht am 5 November 2020 um 16:34

Die Belagerung der österreichischen Hauptstadt durch das Osmanische Reich, die mit der Schlacht von Wien im September 1683 endete, ist ein ständiger Bezugspunkt für die politischen und religiösen Krieger unserer Zeit, und zwar auf beiden Seiten des Kulturkampfes. Zum Beispiel bezeichnete der Terrorist Anders Behring Breivik, der Täter des Utøya-Anschlags in Norwegen 2011, in seinem berüchtigten Manifest 1683 als den „westeuropäischen Unabhängigkeitstag“. Radikalisiert hatte er sich auf der Webite Gates of Vienna. Für die Soldaten des politischen Islamismus hingegen symbolisiert Wien eine schmerzliche Niederlage, eine Schande, die schwer zu vergessen ist.

Die Symbolkraft Wiens ist groß – und sie ist umstritten. Dennoch war der Angriff vom 2. November ein Schock. Es ist mehrere Jahrzehnte her, dass der Terrorismus in dieser Stadt wütete. Damals waren Angriffe allerdings keine Seltenheit: 1975 fuhren sechs Mitglieder des „Arms der arabischen Revolution“ mit der Straßenbahn auf dem Ring zum OPEC-Hauptquartier. Unter der Führung von Ilch Ramírez Sánchez – alias Carlos der Schakal – nahmen sie die Minister der Ölförderländer als Geiseln und forderten Unterstützung für das palästinensische Volk, sowie die Nicht-Anerkennung des Staates Israel durch alle arabischen Länder. Bei diesem Anschlag wurden drei Menschen getötet.

Wenige Jahre später, im August 1981, stürmten zwei schwer bewaffnete Palästinenser die Synagoge in der Seitenstettengasse im Zentrum von Wien, genau dort, wo die Anschlagsserie am 2. November begann. Zwei Menschen wurden getötet und 21 weitere verletzt, viele von ihnen schwer.

Doch seit der Terrorwelle in den 1980er Jahren war die Situation in Wien relativ ruhig. Österreich blieb von der islamistischen Gewalt der letzten Jahrzehnte verschont. Das Land hat eine völlig andere koloniale Vergangenheit als Frankreich oder das Vereinigte Königreich, und als neutraler Staat galt die Alpenrepublik als unbedeutend und harmlos.

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Für diejenigen, die einen Krieg zwischen den Kulturen haben wollen, einen Krieg auf Leben und Tod, pass Wien einfach zu gut in den alten Mustern hinein. So befinden wir uns wieder im Jahr 1683.

Eine Zeitlang diente Wien auch als Sammelpunkt für europäische Islamisten, die nach Syrien und anderswo gehen wollten, um an der Seite des IS zu kämpfen. Und um diesen Stützpunkt nicht zu verlieren, wurden keine Attentate in Österreich verübt.

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Aber die Ruhe der letzten Jahre war – wie es sich jetzt herausstellt – tückisch. Nur eine kurze Atempause. Für diejenigen, die einen Krieg zwischen den Kulturen haben wollen, einen Krieg auf Leben und Tod, pass Wien einfach zu gut in den alten Mustern hinein. So befinden wir uns wieder im Jahr 1683.

Wenn Dschihadisten behaupten, dass Österreich für seine Unterstützung einer von den USA angeführten Kreuzritter-Koalition gegen den so genannten Islamischen Staat nun zahlen muss, ist das Teil dieses verblassten Weltbildes.

Während der Wiener Terrorismus der 1980er Jahre antisemitisch war, scheint das Ziel der Anschläge im Jahr 2020 diffuser und weiter gefasst. Die Synagoge in der Seitenstettengasse liegt in einem lebendigen Lokal- und Szeneviertel im 1. Wiener Gemeindebezirk, in dem durstigen Touristen und Wiener zwischen Bars und Nachtclubs hin- und her stolpern. Es wird das Bermudadreieck genannt: Wer es betritt, nimmt das Risiko auf sich, nie wieder herauszufinden.

Genau wie die angeblich blasphemischen Karikaturen ist dieses schäbige Nachtleben Teil der offenen Gesellschaft – und damit auch der Feind der geschlossenen und monolithischen Gesellschaft. Genau das ist es, was sie töten wollen. Jetzt.

Eine ältere Version dieses Artikels erschien in der schwedischen Zeitung Expressen.

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