Analyse ‚Fit für 55‘ Paket

Klimakrise: Ist Europa ‚Fit für 55‘?

Die Europäische Kommission startete ihr ‚Fit für 55‘ Paket, das eine Reihe neuer Vorschläge für die Überarbeitung klimabezogener EU-Rechtsvorschriften im Hinblick auf EU-Klimaziele (Emissionsminderung um mindestens 55 Prozent bis 2030) enthält. Doch die zentrale Rolle der EU-Marktmechanismen wirft viele Fragen hinsichtlich der Wirksamkeit und Verteilungseffekte des Pakets auf, findet der Experte Béla Galgóczi.

Veröffentlicht am 14 Oktober 2021 um 11:37

Das ambitionierte klimapolitische Paket der Europäischen Kommission ‚Fit für 55‘ scheint die Europäische Union in der Erreichung ihrer klimapolitischen Ziele bis 2030 vorwärtszubringen und den Weg für eine Klimaneutralität bis 2050 zu ebnen. So weit, so gut.

Doch ist Europa auch in sozialer Hinsicht fit für ein solches Maßnahmenpaket? Steht es im Einklang mit dem Grundsatz des „gerechten Übergangs“, der in der EU und in den EU-Institutionen weitestgehend geteilt wird? Während sich in diesem Zusammenhang vorangegangene Bestrebungen vorwiegend auf Arbeitsplätze, Regional- und Industriepolitik richteten – Schwerpunkte des Just Transition Fund des Europäischen Grünen Deal – stehen jetzt Verteilungsaspekte dieses gerechten Übergangs auf dem Programm.

Zentrale Aspekte des Maßnahmenpakets sind neben einem Klima Sozialfonds auch eine Ausweitung des Emissionshandelssystems (EHS) für Brennstoffe auf die Bereiche Gebäude und Verkehr – zum ersten Mal wird sich der Emissionshandel direkt auf die Zivilgesellschaft auswirken. 

Rückläufige Verteilungseffekte

Seit langem wird argumentiert (von Cambridge Econometrics, European Climate Foundation, L’Institut du développement durable et des relations internationales und dem Europäischen Gewerkschaftsbund), dass eine ambitionierte und effektive Klimapolitik einen ausgeglichenen Handlungsrahmen braucht. Die Erreichung des EU-Klimaziels kann nur durch gemeinsam und angemessen konzipierte Vorschriften, Standards und Marktmechanismen gelingen. Letztere sind zwar unerlässlich, um Marktteilnehmern Preissignale vorzugeben und Investitions- und Verhaltensmuster zu ändern, doch können sie nur in gut funktionierenden Märkten die gewünschte Wirkung erzielen. 

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Allerdings ist das im Emissionshandel, besonders in den Bereichen Gebäude und Verkehr, bei weitem nicht der Fall. Die Emissionsreduktion in diesen beiden Bereichen hinkt dem Rest der Wirtschaft hinterher und hier muss ein radikalerer Weg eingeschlagen werden. In beiden Fällen sind die Märkte jedoch äußerst „unflexibel“: Ihr CO2-Ausstoß reagiert nicht auf Preissignale. Es wird dauern, bis die nötigen CO2-armen Technologien zur Verfügung stehen, deswegen werden Verbraucher zeitweise mit höheren CO2-Preisen konfrontiert sein, denn sie sind an das fossile Brennstoffsystem gebunden und haben kaum Alternativen zur Auswahl. 

Darüber hinaus haben solche Preissignale massive, rückläufige Verteilungseffekte, die Haushalte mit niedrigem Einkommen überproportional treffen, da diese einen höheren Anteil ihres Einkommens für Kraftstoff und Verkehr aufwenden. Auch sind sie kaum in der Lage, sich umweltfreundlicher einzustellen, denn CO2-arme Produkte (Elektrofahrzeuge, Solaranlagen usw.) zeichnen sich zwar durch niedrige Betriebskosten aus, verursachen aber in der Regel hohe Anschaffungskosten – eine große Hürde für Haushalte ohne problemlosen Zugang zu billigem Kapital. 

Allgemein sind Verbraucher – ganz besonders diejenigen mit geringem Einkommen – oft nicht ausreichend über verfügbare CO2-arme Optionen informiert. Diejenigen, die sich in einer wirtschaftlich instabilen Situation befinden, haben auch einen kurzsichtigen Planungshorizont und lassen daher mögliche langfristige Kosteneinsparungen außer Acht. Ein schlecht funktionierender Emissionshandel kann zusätzlich durch schlecht durchdachte Vorschriften wie gewichtsabhängige CO2-Standards, die SUV begünstigen und kleine Benzinfahrzeuge benachteiligen, noch verstärkt werden. 

Betrachtet man die Verteilungsproblematik, so wird die scheinbare „Gleichheit“ eines EU-weiten CO2-Preises in kritischen Sektoren, die sich direkt auf die Verbraucher auswirken, massive Konsequenzen für die soziale Ungleichheit haben – sowohl zwischen als auch innerhalb der Mitgliedstaaten. Die EU ist weit von einer sozialen Gleichheit entfernt. Eine einheitliche CO2-Bepreisung wird sich auf Verbraucher in Luxemburg anders auswirken als in Bulgarien; das Land weist die höchste Brennstoffarmut und den niedrigsten Mindestlohn in der EU auf (siehe Diagramm). 

Unzureichende Maßnahmen

Der vorgeschlagene Klima Sozialfonds ist eine notwendige, aber unzureichende Kompensationsmaßnahme. Die schwierige Herausforderung, einen wirksamen und fairen Kompensationsmechanismus zu entwickeln, der die verschiedenen Ungleichheiten und die Marktzugänglichkeit sowie Marktinformation umfasst, wurde massiv unterschätzt. Die Einführung eines Emissionshandels ist einfach; die Schaffung eines angemessenen Kompensationsmechanismus in einem heterogenen Wirtschaftsraum mit 27 Mitgliedern gestaltet sich allerdings viel schwieriger.

Der Fonds soll sich zwischen 2025 und 2032 auf 72,2 Milliarden Euro belaufen, wobei 25 Prozent der EHS-Einnahmen aus dem Verkehrs- und Wärmesektor verwendet werden und Mitgliedstaaten möglicherweise einen zusätzlichen Betrag beisteuern müssen. Das ist sehr wenig im Vergleich zu den Herausforderungen, die eine solche Ausweitung des EHS mit sich bringt. Der Zweck höherer CO2-Preise besteht in jedem Fall nicht darin, die Einnahmen zu erhöhen, sondern das Marktverhalten auf CO2-arme Technologien zu lenken – es gibt also ein starkes Argument dafür, die zusätzlichen Einnahmen vollständig umzuverteilen. 

Auch die Konzeption des Fonds wirft einige Fragen auf. Nur ein Teil davon soll für soziale Kompensationszahlungen verwendet werden; der Rest umfasst Fördergelder für Elektrofahrzeuge sowie Investitionen in die Errichtung von Ladeinfrastruktur und die Emissionsreduzierung von Gebäuden. Einkommensschwache Haushalte würden von diesen Maßnahmen nicht profitieren. Ganz im Gegenteil würde die Verwendung des Fonds zur Förderung von Elektrofahrzeugen wohlhabende Haushalte unverhältnismäßig stark begünstigen. Für einkommensschwache Haushalte wäre es viel wichtiger, alte, umweltschädliche Autos gegen kraftstoffsparende auszutauschen, was eine gründliche Neuregulierung des europäischen Gebrauchtwagenmarktes erfordert. 

Bei den Überlegungen zur Verteilung des Fonds auf die Mitgliedstaaten hat sich die Kommission bemüht, eine Formel aufzustellen, die die Bevölkerungsgröße (einschließlich der ländlichen Gebiete), das Bruttonationaleinkommen pro Kopf, den Anteil der stark betroffenen Haushalte und die Brennstoffemissionen der Haushalte berücksichtigt. Dies wird jedoch immer noch nicht ausreichen, um die Ungleichheiten innerhalb und zwischen den Ländern zu überwinden. Ein relativ armer Mitgliedstaat mit geringerer nationaler Ungleichheit könnte am Ende weniger vom Fonds profitieren als ein reicher Mitgliedstaat mit einer stärkeren nationalen Ungleichheit.

Die Mitgliedstaaten müssen bis 2024 zusammen mit ihren nationalen Energie- und Klimaplänen soziale Klimapläne vorlegen, in denen stark betroffene Gruppen und Maßnahmen ausgewiesen sind. Wie soll das angesichts der großen Unterschiede im politischen Engagement und in den institutionellen Kapazitäten funktionieren? Die großen Diskrepanzen zwischen den Mitgliedstaaten bezüglich der Vorgehensweise ihrer nationalen Energie- und Klimapläne beim gerechten Übergang in der Vergangenheit könnten einen Vorgeschmack auf das geben, was zu erwarten ist.

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