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Ein ukrainischer Oscar, hartes Vorgehen gegen russische Dissidenten und Grenzstreitigkeiten zwischen Verbündeten

In Fokus unserer Osteuropa-Presseschau stehen diesen Monat der mit dem Oscar ausgezeichnete ukrainische Dokumentarfilm 20 Tage in Mariupol, die jüngsten Angriffe auf russische Oppositionelle im Ausland und die Spannungen zwischen Polen und der Ukraine auf Grund von Grenz- und Handelsstreitigkeiten.

Veröffentlicht am 20 März 2024 um 10:52

Der diesjährige Oscar für den besten Dokumentarfilm ging an den erschütternden ukrainischen Film 20 Tage in Mariupol, der die Qualen der Menschen in der von der russischen Armee im Frühjahr 2022 gestürmten Stadt schildert. Als Regisseur Mstyslaw Chernow den Preis entgegennahm - eigentlich ein Traum für Filmschaffende auf der ganzen Welt - sagte er, dass er lieber keinen Oscar gewonnen und den Film nicht gedreht hätte, weil er es nur getan habe, weil in der Ukraine Krieg herrscht. Für einen kurzen Moment wurde die glamouröse Hollywood-Stimmung durch seine düstere Rede und die Erinnerung an den Krieg und seine Opfer gestört.

Der Oscar für diesen Film kann als Ausdruck der Solidarität mit der Ukraine gewertet werden, die nicht nur im politischen, sondern auch im kulturellen Bereich stattfindet. Mit Bitterkeit haben die ukrainischen Medien, die die Oscar-Gala in gekürzter Form übertragen wollten, zur Kenntnis genommen, dass ein Teil der Preisverleihung, in dem die Crew des Films zu Wort kommt, herausgeschnitten wurde. Der Organisator und Produzent der Veranstaltung, Disney Entertainment, erklärte daraufhin, diese Kürzungen seien notwendig gewesen, um die mehrstündige Veranstaltung auf 90 Minuten Sendezeit zu bringen.

Der ukrainische Kolumnist Witaly Portnikow hat jedoch eine andere Theorie. Im ukrainischen Fernsehsender Espreso vertritt er die Ansicht, dass der Krieg gegen die Ukraine im westlichen Bewusstsein bereits Geschichte ist. Eine Story, die von den Titelseiten verschwunden ist und nunmehr auch in den Köpfen bloß noch einen Randplatz einnimmt. Und das, obwohl der Krieg seiner Meinung nach immer größere Ausmaße annimmt und der Konflikt unvermeidbar auch auf andere Regionen der Welt übergreifen wird - auch weil Wladimir Putin seine Bereitschaft zu einem Atomkrieg mit dem Westen kürzlich erneut erklärt hat. Portnikow verweist darauf, dass vor einem Jahr die Rede von Julia Nawalnaja bei der Preisverleihung für den Film Nawalny nicht gekürzt wurde, weil sie die russische Aggression gegen die Ukraine damals mit keinem Wort erwähnt hatte.

Alexej Nawalny, der im Februar in einer russischen Strafkolonie gestorben war, wurde bei der diesjährigen Oscar-Verleihung mit einer Schweigeminute geehrt. Das erinnert an die Arbeit der amerikanischen Anthropologin Katherine Verdery, die über die “Politik der Leichen” im Kontext der postkommunistischen Transformation Osteuropas nachgedacht hat. Überlegungen, die jetzt wieder aktuell und relevant werden, angesichts der Tatsache, dass für viele Zuschauer das symbolische Gewicht einer Leiche mehr wiegt als das von Tausenden Kriegsopfern. 

Die Unterstützer von Alexej Nawalny haben das Thema Ukraine vermieden, weil sie dafür kämpfen, das eigene Volk zu beeinflussen, nicht die Ukrainer. Sie kämpfen gegen Putins Regime und haben dabei bisher nur moralische Siege errungen.

Nur wenige Wochen nach der Ermordung von Alexej Nawalny im Gefängnis wurde am 12. März einer der Führer seiner Bewegung, Leonid Wolkow, in der Nähe seines Hauses angegriffen und mit einem Hammer schwer verletzt. Dies geschah nicht in Russland, sondern in der litauischen Hauptstadt Vilnius. Am selben Tag gab Wolkow dem unabhängige russische Exilmedium Meduza ein Interview. Darin erklärt er, dass für ihn die größte Gefahr darin bestehe, "dass sie uns alle umbringen".


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Die litauischen Sicherheitsdienste gehen davon aus, dass russische Agenten den Anschlag organisiert haben, um den Einfluss der Opposition auf die Präsidentschaftswahlen am 15. und 17. März 2024 zu untergraben. Auf X erklärte Außenminister Gabrielius Landsbergis, dass die zuständigen Behörden an der Arbeit seien und die Verantwortlichen für den Anschlag auf Leonid Wolkow bestraft würden. Dieser folgte auf die Vergiftung der russischen Reporterin Jelena Kostjutschenko in Deutschland und den brutalen Mord an Maksim Kusminow in Spanien, einem russischen Piloten, der für die Ukraine arbeiten wollte. 

Die europäischen Spionageabwehrdienste tun sich offensichtlich schwer, die Sicherheit der russischen Oppositionellen im Exil zu gewährleisten. Wie die bekannte russische Politikwissenschaftlerin Ekaterina Shulman es ausdrückte, bewegen sich russische Agenten in Europa wie auf einem Präsentierteller.

In Polen gibt es seit vielen Wochen Proteste von Bauern und anderen Gruppen an der Grenze zur Ukraine. Offiziell richten sich die Demonstrationen und Blockaden gegen die Einfuhr von Lebensmitteln und landwirtschaftlichen Erzeugnissen aus der Ukraine. Praktisch wird durch die Blockade der Straßen und Grenzübergänge jedoch der Transport aller Waren behindert - auch derjenigen, die an der Front benötigt werden. Nachdem polnische Demonstranten mehrfach ukrainische Waren aus Zugwaggons und Containern gekippt hatten, beschloss Polens Premierminister, Grenzübergänge in die Liste der besonders geschützten kritischen Infrastrukturen aufzunehmen. Für viele war es ohnehin überraschend, dass die Grenze zu einem Land, das sich im Krieg befindet, nicht schon früher als kritisch eingestuft wurde.

Die Grenzblockade wirft einen Schatten auf die polnisch-ukrainischen Beziehungen. Die Ukrainer wollen die günstigen Handelsvereinbarungen, die die EU ihnen seit Februar 2022 zugebilligt hat, unbedingt beibehalten. Die polnischen Landwirte ihrerseits wollen eine vollständige Schließung der Grenze für ukrainische Produkte. Wie Kaja Puto in der Krytyka Polityczna berichtet, haben bisher weitgehend ignorierte Fachleute erklärt, dass die niedrigen Getreidepreise auf dem polnischen Markt jedoch gar nicht das Ergebnis eines Zustroms ukrainischen Getreides seien, sondern lediglich die Preise auf dem Weltmarkt widerspiegeln würden, welche durch die massive russische Produktion gesenkt worden seien. 

In der Ukraine ist man empört darüber, dass Polen die Schließung seiner Grenzen fordert, während das Land im Handel mit Russland oder Belarus kein Problem sieht. Ein solcher Handel sei schließlich nicht illegal, da Lebensmittel nicht unter die Sanktionen fallen. Die feindliche Atmosphäre wurde durch die Verhaftung ukrainischer Journalisten in Polen, die über die Situation berichten wollten, noch weiter aufgeheizt.

Die Ukrainer haben auch die Szenen, in denen polnische Landwirte ukrainisches Getreide zu Dumpingpreisen abladen, mit Wut verfolgt. Für die Ukraine, die in den 1930er-Jahren unter dem Holodomor, einer von Stalin künstlich herbeigeführten Hungersnot, gelitten hat, die Millionen von Opfern gekostet hat, sind solche Handlungen ein Schlag ins Gesicht. Dies gilt insbesondere, wie Präsident Selenskyj oft betont, wenn man bedenkt, dass ukrainische Landwirte ihre Ernte manchmal unter Beschuss einbrachten oder durch Minen getötet wurden, die die russische Armee auf ihren Feldern hinterlassen hatte.

Die Proteste der Landwirte und die Polemik um angeblich minderwertige ukrainische Lebensmittel, die auf polnischen Tischen landen, schüren Ressentiments gegenüber der Ukraine, die nach dem russischen Angriff vor nur zwei Jahren undenkbar gewesen wären. Die Solidarität, die damals herrschte, scheint heute aufgebraucht zu sein. Laut einer Ipsos-Umfrage unterstützen 78 Prozent der Polen den Protest und die Forderungen der Bauern. Ein ähnlicher hoher Anteil lehnt das Argument ab, dass ein Stopp der ukrainischen Importe der Ukraine im Krieg gegen Russland schaden könnte.

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