Langsamer Abgang aus dem Sowjet-Universum

Die Parlamentswahlen am 28. Oktober dürften Präsident Janukowytsch im Amt bestätigen und einen neuen Umgang mit dem Erbe der Orangenen Revolution einläuten. Doch auf lange Sicht wird die anhaltende Krise die Ukraine zu einem relativ normalen Land machen, meint ein ukrainischer Journalist.

Veröffentlicht am 26 Oktober 2012 um 14:35

Die so mühsam aufgebaute postsowjetische Welt ist am Zusammenbrechen. Mit diesem Einsturz hängt auch das Schicksal der Ukraine in der Schwebe. Viele Vertreter der ukrainischen Elite in Politik, Medien und Geschäftswelt bereiten sich auf ein langes Leben im Untergrund vor. Was können sie sonst auch tun? Nach mehr als zwei Jahren als Staatschef hält Präsident Wiktor Janukowytsch fast die gesamte Macht im Land in seinen Händen. Was er – gemeinsam mit anderen Politikern der Partei der Regionen – getan hat, kann nur als Staatsstreich bezeichnet werden.

Durch Verfassungsänderungen führte er alte Privilegien für das Amt des Präsidenten wieder ein, das er zufällig gerade selbst innehat. Er drängte die Regierung, das Parlament und die Justiz an den Rand, unterwarf sich den Verteidigungssektor und schaltete die Bevölkerung und die Opposition gleich.

Wohlstand statt Freiheit

Was da zur Zeit in der Ukraine entsteht, erinnert sehr an das Regime von Alexander Lukaschenko in Weißrussland. Es gibt nur einen Unterschied: Lukaschenko baute seine Macht als Diktator über mehrere Jahre Schritt für Schritt auf. Janukowytsch hingegen wurde durch die Ausschlachtung seiner Rechte als Präsident zum Diktator, wobei die ukrainische Gesellschaft teilnahmslos zuschaute.

All dies bestätigt wieder einmal die offen ausgesprochene These, laut welcher die ukrainische Bevölkerung bei der Orangenen Revolution von 2004 nicht etwa Demokratie, sondern vielmehr Reichtum haben wollte. Wiktor Juschtschenko war während der „Revolution“ noch ein verantwortungsloser Populist und wurde dann für kurze Zeit das Idol von Millionen von Ukrainern.

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Wer Juschtschenko wählte, äußerte damit nicht seinen Wunsch nach Freiheit, sondern den nach Wohlstand. Die Einstellung dieser Wähler war ganz einfach: Juschtschenko zahlt unsere Löhne rechtzeitig, also kann er der Ukraine auch Wohlstand verschaffen. Heute sind die armen, marginalisierten und unterprivilegierten Wähler Janukowytschs ebenso enttäuscht wie vor ein paar Jahren diejenigen, die für Juschtschenko gestimmt hatten.

Konsumstaat

Warum sollte man Janukowytsch mit dem weißrussischen Präsidenten vergleichen? Es gibt zwar Ähnlichkeiten, doch führen diese nicht zu den gleichen Schlussfolgerungen. Lukaschenko regiert seit nunmehr 18 Jahren in Weißrussland, während sein „ukrainischer Zwillingsbruder“ wahrscheinlich nicht so lange an der Macht bleiben wird.

Zunächst einmal ist die weißrussische Diktatur sehr konsumorientiert, was bedeutet, dass das Regime nichts von Wirtschaftsreformen versteht. Die meisten Güter werden natürlich mit russischen Geldern finanziert. Beschließt der Kreml, nicht mehr für den kleinen Bruder aufzukommen, dann wird die weißrussische Gesellschaft erleben, was Armut wirklich bedeutet. Und diese Armut wird zum Zusammenbruch des Systems führen. Lukaschenko wird dann entweder von Mitgliedern seines engsten Kreises ausgeschaltet oder von ihnen an die Justiz ausgeliefert werden.

Die Ukraine unterscheidet sich in diesem Zusammenhang von Weißrussland dahingehend, dass sie sich immer selbst finanziert hat. Es stimmt, dass wir günstig an Erdgas kommen. Das arrangierte Leonid Kutschma durch ein Abkommen mit dem ehemaligen russischen Staatschef Boris Jelzin. Doch diese Zeiten sind nun endgültig vorbei. Moskau wird Kiew nicht gleichermaßen unterstützen wie Minsk. Das kann und will es nicht.

Im heutigen Stadium des Zusammenbruchs der postsowjetischen Welt hat Kiew Sorgen, aber die gleichen wie alle postsowjetischen Staaten. Man kann diese Länder insofern als konsumorientiert bezeichnen, als dass ihre Eliten und ihre Bevölkerungen immer noch sowjetische Ressourcen und Mittel verwenden. Es gibt natürlich Länder – wie Georgien –, in welchen diese Ressourcen bereits erschöpft sind. Die Regierung in Tiflis war dazu gezwungen, Kleinunternehmen etwas Freiheit zu gewähren und die Korruption zu bekämpfen.

Befreiung aus der Zwangsjacke

Doch es gibt auch Länder, die über reichere Bodenschätze verfügen. Zu ihnen gehören die Ukraine und Russland. Doch auch ihr Ende ist nahe und wird tragisch sein. Janukowytsch ist einfach zu spät dran. Wäre er 1994 schon Präsident der Ukraine geworden, dann wäre er heute immer noch an der Regierung und wir würden uns fragen, wann dieser 18 Jahre lange Albtraum wohl zu Ende geht. Sogar wenn Janukowytsch ein wenig später Präsident geworden wäre, sagen wir 2004, hätte er ein paar Jahre an der Spitze eines unbegrenzt autoritären Regimes genießen können; bis zum Eintreten der Wirtschaftskrise.

Ironischerweise war es aber eben diese Wirtschaftskrise, die Janukowytsch an die Macht brachte. Und deshalb steht sein Regime zurzeit auch auf sicheren Beinen. Doch jetzt, da der Zusammenbruch immer schneller heran naht, sind Dialog und Vertrauen erforderlich, nicht Repression und Plünderung aller Besitztümer des Landes. Und Janukowytsch setzt sich zweifelsohne nicht für erstgenannte Werte ein.

Ein weiteres Thema wird auf der Tagesordnung erscheinen, wenn Janukowytschs Zeit einmal abgelaufen ist. Die ukrainische Gesellschaft steckt in der Zwangsjacke des Paternalismus und ist noch nicht erwachsen genug, um sich aus ihr zu breien. Es mangelt ihr an Sinn für staatsbürgerliche Verpflichtungen. Das Gesicht des neuen Zeitalters könnte Julija Tymoschenko sein, oder jemand wie sie. Dieser Person könnte es dann vielleicht gelingen, ein politisches Klima zu schaffen, in dem man anfängt, über Reformen zu diskutieren. Neue Generationen von Politikern und Wirtschaftswissenschaftlern werden diese Reformen dann aufgreifen, doch keine von ihnen wird sich schnell durchsetzen können.

Zwischen dem Zusammenbruch des autoritären Regimes und den ersten Reformen sollten wir mit einer Wartezeit von mindestens vier bis sieben Jahren rechnen. Zur Umsetzung der Reformen sind dann weitere drei bis fünf Jahre nötig. Die Rechnung ist einfach: In rund 15 oder vielleicht sogar schon acht Jahren wird die Ukraine ein relativ normales Land sein. Erst dann wird sie anfangen, dem heutigen Polen zu ähneln. (pl-m)

Der Artikel stammt aus der Oktober/November-Ausgabe von New Eastern Europe

Aus Kiew

Eine Kampagne ohne Ideen

„Als interessant kann man die Kampagne, die gerade zu Ende gegangen ist, nicht bezeichnen. Aber wenigstens war sie lehrreich“, schreibt Serhy Rakhmanin in Dzerkalo Tyzhnia: „Wie hatten den Eindruck, bei einem Wettbewerb zuzusehen, in dem es vorwiegend um Geld und Trägheit ging.“

Zudem, so die Wochenzeitung weiter, sei die Kampagne der konkurrierenden Parteien vor allem durch den „gänzlichen Mangel an Ideen“ und die „merkliche Abwesenheit“ Julija Tymoschenkos aufgefallen. Die Oppositionspolitikerin ist seit Oktober 2011 wegen Amtsmissbrauch in Haft. Ebenfalls kennzeichnend für die Kampagne seien Betrugsfälle gewesen, wie die Wochenzeitung aus Kiew berichtet:

Die Regierung nimmt ohne Skrupel Einfluss auf die Gerichte, die allein dazu befugt sind, Schiebung oder schändliche Methoden nachzuweisen. Dazu gehört etwa das illegale Abmontieren von Werbeplakaten (manchmal sogar in Anwesenheit der Ordnungshüter). Die Kandidaten der Opposition versuchten zwar, vor Gericht zu gehen, und monierten die Weigerung der lokalen Behörden, Material für die Kampagne auszuteilen und das Abhalten von Wahlveranstaltungen zu erleichtern – jedoch vergebens. Wie gewöhnlich stellte das staatliche Fernsehen seine Sender weitgehend der Partei der Regionen zur Verfügung. Die Partei des Präsidenten Wiktor Janukowytsch nahm sich den Löwenanteil der Sendezeit auf den offiziellen Sendern heraus, nämlich 43,3 Prozent.

Ich weiß nicht, wer letztendlich gewinnen und welche Folgen diese Wahl haben wird. Eines ist hingegen sicher: Unwahrheit und Gleichgültigkeit haben bereits gewonnen. [...] Was erhoffen sich die Staats- und Regierungschefs der Länder im Westen, die von Äußerungen über unsere Wahlkampagne absehen und lieber auf die Ergebnisse warten? Was brauchen sie? Tausende von Wahlbeobachtern?

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