Lasst uns aufhören, vom Scheitern der EU zu sprechen!

Viel zu oft wird vergessen, dass Länder wie Spanien und Italien aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur EU fähig waren, ihren kolonialen Ambitionen den Rücken zu kehren und sich dabei dennoch wirtschaftlich zu entfalten. Dieses Beispiel könnte sich auch für die Zukunft der Union als wertvoll erweisen, meint ein niederländischer Politologe.

Veröffentlicht am 8 Juli 2013 um 15:15

„Afrika beginnt hinter den Pyrenäen“: Oft wurde dieser Aphorismus Alexandre Dumas zugeschrieben. Verwendet hat ihn im Jahr 1959 aber Albert Camus. Die Spanier verabscheuen diesen Ausdruck. Denn wenn es einen Kontinent gibt, mit dem die Spanier nicht in Verbindung gebracht werden wollen, so ist es Afrika.

Ab 1898, dem Jahr, in dem Kuba unabhängig wurde, wurde immer deutlicher, dass Spanien als Kolonialreich ausgedient hatte. Allerdings stellten sich die Spanier noch lange Zeit die Frage, ob sie nicht doch die Kulturhauptstadt Hispanoamerikas bleiben könnten. Unter Franco war die politische Elite überzeugt davon, dass Spanien noch immer in der Lage war, sich als Großmacht zu behaupten und durchzusetzen. Mit dem Tod Francos 1975 aber starb auch die Illusion eines weltumspannenden spanischen Großreiches.

Demokratisierung und Modernisierung dank Europa

1976 haben sich die Gegner des Franco-Regimes endgültig für Europa entschieden. Ihnen war klar, dass sie der Europäischen Gemeinschaft beitreten müssen, wenn sie sich von den kolonialen Ansprüchen Spaniens distanzieren. „Anstatt Hispanoamerikas Kopf“ zu bilden, zogen sie es, wie sie selbst zu sagen pflegten, vor, „Europas Schwanz zu sein“.

Für Spanien bedeutete der Beitritt zu Europa Demokratisierung und Modernisierung. Spaniens [Sozialistische Arbeiterpartei, span.: Partido Socialista Obrero Español, kurz] PSOE wurde von deutschen Geldern wiederbelebt. Und die [Kommunistische Partei Spaniens, span.: Partido Comunista de España, kurz] PCE, die 1976 noch die weitaus größte Arbeiterpartei war, konnte dem Eurokommunismus nicht standhalten. Die Anhänger Francos gründeten die [derzeit regierende spanische Volkspartei, span.:] Partido Popular [kurz PP], die das freiheitliche Demokratiemodell mit Begeisterung aufnahm. Mithilfe europäischer Gelder wurden Eisenbahnstrecken und Straßen gebaut oder modernisiert. Katalonien und das Baskenland erhielten die Möglichkeit, sich wirtschaftlich und kulturell weiterzuentwickeln. Das olympische Dorf in Barcelona (1992) und das Guggenheim-Museum in Bilbao (1997) wurden zu stolzen Symbolen einer spektakulären wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in den autonomen Regionen.

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All jene, die das Spanien Francos erlebt hatten, haben die politischen und wirtschaftlichen Errungenschaften der letzten dreißig Jahre sicherlich die Sprache verschlagen. Zwar hat das Land all das mit der Hilfe der EU erreicht, vor allem aber auch seinen eigenen Kräften zu verdanken. In den ersten zehn Jahren nach seinem Beitritt hat sich das Bruttonationaleinkommen ein erstes Mal, in den darauffolgenden zehn Jahren ein zweites Mal verdoppelt.

Eine Alternative für die Niederlande

Im gleichen Zeitraum wuchs auch die niederländische Wirtschaft an. Und obwohl sie weniger stark zulegte als jene Spaniens, so war sie dennoch äußerst leistungsfähig. Europa war auch für die Niederlande eine geopolitische Alternative zu imperialen Bestrebungen. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Niederlande gezwungen, gegen die indonesischen Unabhängigkeitskämpfer vorzugehen. Das niederländische Weltreich war bis auf winzige Reste zusammengeschrumpft. Allerdings begriffen vorausschauende Politiker damals, dass die europäische Zusammenarbeit für die Niederländer, die sich bis dahin als „kleine Großmacht“ wahrgenommen hatten, eine wirkliche Alternative darstellt.

Natürlich galt das auch für Italien, das nach der gescheiterten Eroberung Äthiopiens aus seinem imperialen Wunschtraum wachgerüttelt und ebenfalls zu „Europas Schwanzglied“ wurde. Vor dreißig Jahren wurde das politische System noch von zwei völlig korrupten Parteien beherrscht: Die von Giulio Andreotti angeführten Christdemokraten und die von Bettino Craxi dirigierten Sozialisten. Zehn Jahre später, 1994, wurden beide Parteien von ihren Wählern im Stich gelassen. Die Kommunistische Partei Italiens [, ital.: Partito Comunista Italiano, kurz] PCI, ist 1991 in eine demokratische Partei [die Partito Democratico della Sinistra], kurz PDS übergegangen. Und aus der [neo]faschistischen Partei [Movimento sociale italiano, kurz] MSI wurde 1995 die Partei Alleanza Nazionale [, kurz AN, deutsch: Nationale Allianz]. Später wurden dann die Lega Nord und Berlusconis Forza Italia gegründet. Es ist ein kleines Wunder, dass sich das von den Alliierten aufgezwungene parlamentarisches System Italiens letztendlich doch noch als relativ solide erwiesen hat. Allerdings gründet sowohl diese Stabilität als auch [Italiens] Wirtschaftswachstum zu einem beachtlichen Teil auf der Zusammenarbeit der EU-Länder.

Andreotti und Craxi korrupter als Berlusconi

Berlusconi mag zwar korrupt sein. Schaut man sich aber die Anzahl mafioser Freunde an, so kann er weder Andreotti noch Craxi das Wasser reichen. Die Gesetze, auf deren Grundlage Berlsuconi verurteilt wurde, wurden früher eingeführt, um gegen die Korruption von Sozialisten und Christdemokraten anzukämpfen. Dementsprechend sollten wir den Tatsachen ins Auge sehen: Sowohl für Spanien, als auch die Niederlande und Italien war der Beitritt zu Europa sowohl vom geopolitischen als auch vom wirtschaftlichen Standpunkt aus betrachtet ein großer Erfolg.

Die Erweiterung der EU in Richtung Mitteleuropa aber folgt einer ganz anderen Logik. Sie ist die unmittelbare Folge des Zerfalls der Sowjetunion. Für die Länder, die unter dem kommunistischen Joch gelitten haben, verkörperte der Beitritt zur Europäischen Union eine Befreiung und in gewisser Hinsicht auch eine Rückkehr ins traute Heim.

Zweifelsohne kann man sich über die ein oder andere Maßnahme wie die Einführung des Euro streiten, aber zu glauben, dass das europäische Projekt gescheitert ist, ist vom historischen Standpunkt aus betrachtet völlig absurd. Die Gegner des europäischen Projekts sind Nationalanarchisten. Die Deutschen nannten [dieses Phänomen] früher Kleinstaaterei.

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