Stadtteil Plagwitz (Leipzig). Photo von Iwanp.

Leipzig, "perforierte" Stadt sucht neues Leben

Wie in anderen ostdeutschen Städten ist die Leipziger Bevölkerung nach der Wende bedeutend geschrumpft. Heute sollen einige sich selbst überlassene Industrieviertel zu neuem Leben erwachen. Die Stadt will hier den von niedrigen Mieten angezogenen Mittelstand neben den ansässigen sozial schwächeren Bevölkerungsschichten ansiedeln.

Veröffentlicht am 29 Juni 2009 um 15:42
Stadtteil Plagwitz (Leipzig). Photo von Iwanp.

Um 1900 zählte der Leipziger Stadtteil Plagwitz zu den bedeutendsten Industriezentren Europas. Die Textilindustrie florierte. Heute sind davon nur noch Fabrikruinen übrig. Unkraut und Gestrüpp wuchert in den leerstehenden Ziegelsteinbauten. Eine Industrieruine, umgeben von Häusern, in denen früher einmal Arbeiter wohnten. Der traurige Anblick eines Stadtteils nach dem Zusammenbruch.

Doch gibt es Leben in dem östlich vom Stadtzentrum gelegenen Viertel. Zahlreiche Fabrikgebäude sind umfunktioniert worden. Mittelständische Unternehmen, Clubs und Fitnesscenter siedelten sich an. Die ehemalige Baumwollspinnerei ist ein Paradebeispiel: Mitte Juni weihte Angela Merkel eine Austellung von dort heimischen und oftmals international renommierten Künstlern ein.

"Einige Künstler finden, dass das Viertel zu elitär geworden sei", sagt Tobias Habermann. "Sie sind jetzt in andere Ecken von Plagwitz weggezogen." Doch machen gerade die ein Szeneviertel aus. "Rund um den Lindenauer Markt beispielsweise haben in der letzten Zeit elf Galerien aufgemacht. Auf diesem Platz lungern aber vor allem Arbeitslose und sechzehnjährige Mütter mit Kinderwagen herum."

Habermann, 32, ist der Quartiermanager von Plagwitz. Unter anderem wacht er darüber, dass die europäischen und deutschen Fördergelder korrekt verwendet werden. Eines der Ziele ist, gegen den Verfall der leerstehenden Wohnblocks vorzugehen. Nach dem Mauerfall und der Stilllegung des Industriestandorts sind die Menschen massenweise fortgegangen, um im Westen Arbeit zu suchen. Die Folgen waren erschreckend: zahlreiche halbverfallene und mit Brettern vernagelte Gebäude.

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Eine "perforierte Stadt" sagt Habermann. Die Wohnblocks sind Ende des 19. Jahrhunderts errichtet worden, als die Industrie florierte. Oft sehr schöne Gebäude, aber heute leider in einem gräßlichen Zustand. "Die Hausbesitzer zögern mit den Investitionen. Sie warten darauf, dass die Mieten steigen. Wir helfen Ihnen, Mieter auf Zeit zu finden. Junge Unternehmer, Studenten und Künstler."

Am Ostrand von Plagwitz sieht man das Resultat einer echten Wandlung. Zum Beispiel in Schleussig: junge Familien des Mittelstandes wohnen dort in sanierten Altbauwohnungen, in in Lofts umgebaute Fabrikhallen, in koketten Neubauten. Derzeit ist das Viertel dermaßen gefragt, dass die Yuppies nun wieder in den Westteil von Plagwitz abwandern.

Habermann betrachtet diesen Trend mit gemischten Gefühlen. Ihm ist es wichtig, dass die Menschen in Plagwitz wohnen und arbeiten und sich dort auch zu Hause fühlen. Auch die Armen. "45 Prozent der Menschen rund um den Lindenauer Markt leben von Sozialhilfe. In jeder Stadt gibt es sozial Schwächere. Diese Menschen wollen doch auch irgendwo wohnen. Man kann die doch nicht einfach aus den Sozialwohnungen verbannen!"

Für Habermann ist das Wichtigste, dass sich Lebens- und Wohnqualität verbessern: "Die Innenhöfe restaurieren, mehr Grünflächen, Schulen und öffentliche Gebäude sanieren, das Vereinsleben fördern" Aber auch: "Den 10 Prozent Ausländern helfen — Iraner, Kubaner, Araber, Vietnamesen. Denn der Rechtsextremismus in der Stadt nimmt zu."

Die öffentlichen Förderungen und lokalen Initiativen scheinen Erfolg zu haben. In den acht Quadratkilometern, für die Habermann verantwortlich ist, stieg die Bevölkerung seit 2000 von 31.500 auf 38.000 an. Die Menschen in den Sozialwohnungen im Westen des Viertels, der Mittelstand und die Yuppies im Osten, sowie junge Kreative aus ganz Deutschland sorgten für diesen Anstieg.

Habermann hofft, dass Anfang Juli alle beim großen Kulturfestival in der Karl-Heine-Straße zusammenfinden werden, einer hippen Straße, die ins Stadtzentrum führt. "The West is the Best" lautet das Motto. Tobias Habermann weiß, wovon er redet. Er wohnt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern genau an dieser Straße, in einer idyllischen Ecke direkt am Wasser. Das nennt man Wohnqualität.

MEINUNG

Die Ostalgie der Ostdeutschen

"Sklavenstaat" und "Diktatur des Kapitals" - Deutschland? Das sind jedoch die Begriffe, die junge Ostdeutsche nennen, die sich nicht gern als ein bisschen "altmodisch", "unmodern", "dämlich" und "nostalgisch" bezeichnen lassen, nur weil sie die DDR ins Herz geschlossen haben, schreibt der Spiegel in einer Reportage. Das Nachrichtenmagazin bemerkt, dass die DDR zwanzig Jahre nach dem Mauerfall mehr denn je verklärt wird. "Die meisten DDR-Bürger hatten ein feines Leben", meint Birger, ein 30-jähriger Diplom-Betriebswirt. "Früher gab es die Stasi, heute sammelt Schäuble unsere Daten". Laut einer Studie verteidigen 57 Prozent der Ostdeutschen den ehemaligen SED-Staat. Für den Spiegel handelt es sich hier um eine neue Form der Ostalgie, die "weit über die ehemaligen Funktionäre hinaus geht" und ebenso die Mittelschicht betrifft. "Heute werde die DDR sogar von jungen Leuten idealisiert, die sie selbst kaum erlebt haben", erklärt der Politikwissenschaftler Klaus Schroeder, denn "viele Ostdeutsche begreifen jede Kritik am System als Angriff auf die eigene Person". Als hätten sie genug davon, wie es ein vom Spiegel zitierter Handwerksmeister sagt, dass Talkshows die Wahrheiten kaputt redeten, "als wären die Ostdeutschen alle etwas dämlich und müssten zum Dank für die Wiedervereinigung heute noch einen Kniefall machen".

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