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Europäische Militärstrategie für Libyen

Libyen, ein letztes Hurra für den Westen

Beim Libyenkrieg geht es um viel mehr als nur um Muammar Gaddafi. Sein Ausgang wird im ganzen Nahen Osten nachhallen und die internationale Politik auf Jahrzehnte beeinflussen. Ein entscheidendes Prinzip steht auf dem Spiel.

Veröffentlicht am 29 März 2011 um 13:09
Vadot  | Europäische Militärstrategie für Libyen

Die Verfechter der Fremdeinmischung glauben, dass sie nicht nur dafür kämpfen, die Gräuel in Libyen selbst zu stoppen, sondern dass sie damit auch ein Merkmal für die Zukunft festsetzen. Sie wollen zeigen, dass die Zeiten, in denen ein Diktator seine eigenen Bürger massakrieren kann, zu Ende sind. Der französische Philosoph Bernard Henri-Lévy, der eine unwahrscheinliche Rolle als Verbindungsglied zwischen den libyschen Rebellen und dem französischen Präsident Nicolas Sarkozy spielte, erklärte: „Das Bedeutende an dieser Geschichte ist, dass die ‚Einmischungspflicht’ erkannt wurde.“

Nicholas Kristof bringt in der New York Times ein ähnliches Argument an – „Die Weltmächte haben das Recht und die Pflicht, einzugreifen, wenn ein Diktator sein Volk verschlingt.“ Dieser Gedanke wurde von den Vereinten Nationen 2005 abgesegnet und Kristof zufolge verschafft das Eingreifen in Libyen „diesem noch jungen Konzept Geltung“.

Schön wäre es, wenn man glauben könnte, dass die Doktrin der „Verantwortung zum Schutz“ (Responsibility to protect, umgangssprachlich als R2P bekannt) heute wirklich durchschlägt. Jetzt, da die Rebellentruppen an der libyschen Küste zügig vorwärtskommen, werden sich die Verfechter des Eingreifens freuen.

Der missionarische Eifer des Westens

Doch in Wirklichkeit wird der Libyenkrieg wahrscheinlich eher ein letztes Hurra für den liberalen Interventionismus prägen als den Anbruch seiner neuen Blüte. Denn die ungeschminkte Wahrheit lautet, dass die Westmächte, die das Konzept am stärksten unterstützen, weder die wirtschaftlichen Mittel noch den Rückhalt ihrer Bevölkerung haben, um sich noch sehr viel mehr Einmischung im Ausland erlauben zu können. Die aufsteigenden Wirtschaftsmächte hingegen – China, Indien, Brasilien und andere – sind dem Gedanken gegenüber sehr skeptisch eingestellt.

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Großbritannien, Frankreich und die USA haben alle für die UN-Resolution gestimmt, die eine Gewaltanwendung in Libyen genehmigt. Doch aus der trendigen Gruppe, die als die „BRIC-Staaten“ bekannt ist – Brasilien, Russland, Indien und China –, enthielten sich alle. Keiner von ihnen hat viel Zeit für Oberst Gaddafi übrig. Doch Länder wie China, Indien und Brasilien haben zudem den Eindruck, sie hätten nicht viel zu gewinnen, doch viel zu verlieren, wenn sie bei Einsätzen im Ausland ihr Geld, ihre Leute und ihren Einfluss riskieren.

Instinktiv kümmern sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten und konzentrieren sich auf den langfristigen Aufbau ihrer eigenen wirtschaftlichen Macht. Ein Massaker in Libyen mag ja bedauernswert sein, aber Bengasi ist weit weg von Peking oder Brasilia.

Dazu kommen ein paar Komplikationen. Deutschland hat sich enthalten und hat sich dadurch außerhalb des westlichen Mainstreams positioniert. Südafrika, das zum nächsten BRIC-Gipfel eingeladen wurde, stimmte zwar für die Libyenresolution, kritisierte dann jedoch lautstark die Bombenangriffe. Das große Bild sieht also so aus: Die etablierten Westmächte wollen nach wie vor mit missionarischem Eifer die Welt ins rechte Lot bringen und die aufsteigenden Mächte sind weit vorsichtiger und egozentrischer.

Westliche Verbündete haben die Mittel nicht mehr

Doch die westlichen Verbündeten kämpfen vor einem Hintergrund schwindender Mittel. Die Briten kündigten gerade erst starke Kürzungen ihres Verteidigungsbudgets an und die Franzosen kämpfen ebenfalls mit der Eindämmung ihres Haushaltsdefizits und der Aufrechterhaltung ihres Wohlfahrtsstaats.

Der Widerwille des amerikanischen Militärestablishments, diese neue Verpflichtung auf sich zu nehmen, war ebenfalls spürbar. Präsident Barack Obama und seine Generäle wissen, dass ein US-Präsident heute nicht mehr einfach sagen kann, Amerika werde alles tun, „was auch immer nötig ist“. Admiral Mike Mullen, der Vorsitzende des Vereinigten Generalstabs, erklärte, die größte Drohung für die nationale Sicherheit der USA sei das Haushaltsdefizit. Nach dem Irak- und dem Afghanistankrieg unterstützt auch die Öffentlichkeit die militärischen Einsätze im Ausland deutlich weniger.

Natürlich, falls der Eingriff in Libyen schnell und erfolgreich abgeschlossen wird – Gaddafi abgesetzt, jubelnde Menschenmengen in Tripolis –, dann bekommt der liberale Interventionismus Auftrieb. Doch ein Erfolg könnte sich ebenso als Schlingfalle herausstellen wie eine Niederlage. Ist der Einsatz erfolgreich, wird dies eine Forderung nach der anderen auslösen – und die Reihe der möglichen Kandidaten reißt nicht ab. Angesichts der syrischen Regierung, die auf ihre Bürger schießen lässt, taucht die Frage bereits auf. Doch je mehr von den Westmächten verlangt wird, desto offensichtlicher nimmt das Ungleichgewicht zwischen Ambitionen und verfügbaren Mitteln zu.

BRIC-Staaten sehen den Interventionismus skeptisch

Diese Lücke könnte sich eines Tages füllen, falls die BRIC-Staaten und die anderen aufsteigenden Mächte ihre Einstellung gegenüber dem liberalen Interventionismus ändern. Doch die Aussichten darauf sind sehr gering. Die chinesische Regierung, die noch die Ereignisse am Tiananmen-Platz im Gedächtnis hat, misstraut der Idee, das Ausland könne zur Einmischung berechtigt sein, um die Verletzung der Menschenrechte in einem souveränen Land zu verhindern. Dasselbe gilt für die Russen und Tschetschenien.

Indien, Brasilien und Südafrika sind demokratische Länder, die keinen Notplan zur Erschießung ihrer Bürger brauchen. Doch durch ihre Kolonialgeschichte neigen sie dazu, die Motivationen der Westmächte, die auf der ganzen Welt ihre Militärmacht einsetzen wollen, eher skeptisch zu betrachten. Sie alle sind auch aufstrebende Staaten, die es noch nicht gewöhnt sind, global zu denken.

Im Kontrast dazu denken Großbritannien und Frankreich weiterhin instinktiv global, doch ohne genügende Mittel als Rückhalt. Sogar die Vereinigten Staaten, die bei weitem die herausragende Militärmacht der Welt sind, signalisieren deutlich, dass sie nicht mehr gewillt sind, für die Welt Polizei zu spielen.

Im viktorianischen Zeitalter sangen die Briten: „Wir wollen nicht kämpfen, aber bei Jingo, wenn doch, wir haben die Schiffe dazu, wir haben die Männer und: wir haben das Geld.“ Der Libyeneingriff wirkt eher wie ein letzter Refrain dieser alten Melodie als wie ein mutiges Statement für ein neues Zeitalter.

Aus dem Englischen von Patricia Lux-Martel

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