Gent, 17. Februar 2011: Ein Striptease gegen die Regierungskrise.

Lieber Nicolas!

249 Tage ohne Regierung: Damit bricht Belgien am 17. Februar den Weltrekord. Aber die Belgier haben die Hoffnung noch lange nicht aufgegeben und nehmen die Sache mit Humor: In folgendem Brief stellt sich Le Soir- Kolumnist Maroun Labaki vor, was Angela Merkel zur „belgischen Frage“ an Nicolas Sarkozy schreiben würde.

Veröffentlicht am 17 Februar 2011 um 16:21
Gent, 17. Februar 2011: Ein Striptease gegen die Regierungskrise.

Berlin, den 16. Februar 2011

Lieber Nicolas!

Le Soir 17-02-2010

Am 11. März sehen wir uns in Brüssel wieder. Bei diesem Euro-Sondergipfel wird auch der gute Herman mit von der Partie sein. Und Yves Leterme! Wenn meine Diplomaten Recht behalten, wird er dann noch immer da sein. 271 Tage nach den Wahlen: Unglaublich!*

Jedes Mal denken wir, dass wir ihn zum letzten Mal sehen. Momentan wirkt Yves gesund und munter. Er ist locker, angenehm und sogar charmant. Dagegen haben unsere Kollegen es scheinbar satt, wie Du beim EU-Gipfel am 4. Februar selbst gesehen hast. Auf der einen Seite freuen sie sich, ihn wiederzusehen. Gleichzeitig aber tut es ihnen leid, dass sein Land noch immer so zerrissen ist. Genug! Vielleicht ist es sogar an der Zeit, dass die Achse Berlin-Paris die Sache in die Hand nimmt. Wieder einmal.

Das Beste vom europäischen Journalismus jeden Donnerstag in Ihrem Posteingang!

Cher Nikolaus!

Sollte die Europäische Union nicht schleunigst einen Sonderbeauftragten nach Belgien entsenden? Wie sie es gerade für Albanien getan hat, das – wie du weißt – in einer fatalen politischen Klemme steckt. Ich bin nicht die Einzige, die sich diese Frage stellt. Jedoch ist die Sache unvorstellbar, außer, vielleicht, Belgien würde selbst darum bitten.

Lass uns mit Yves darüber sprechen! Erinnern wir ihn an einen Vorfall, der noch gar nicht so lange her ist. Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise, die sein Land 2010 ins Wanken brachte (und als ich – ganz unter uns – versucht habe, ihn in die Knie zu zwingen), hat der griechische Regierungschef Giorgos Papandreou da nicht den ehemaligen italienischen Wirtschaftsminister Tommaso Padoa-Schioppa zu seinem Wirtschaftsberater gemacht? Armer Tommaso. Nun ist er nicht mehr da, um seine Version zu erzählen. Aber damit habe ich nichts zu tun…

Angesichts der belgischen Krise werden wir die Qual der Wahl haben. Wir können aus dem Vollen schöpfen, aus all den bereits erfolgten Versuchen. Und uns auf Erfahrungen aus vergleichbaren ethnischen Konflikten berufen.

Da ist zum Bespiel der Italiener Romano Prodi, der es mit seiner N-VA [Neu-Flämische Allianz] – der Liga Nord – zu tun hatte. Aber auch der Spanier Felipe González mit seinen Katalanen und Basken. Selbst wenn er sich inzwischen von den separatistischen Bestrebungen distanziert hat. Und den Briten Tony Blair, der sich mit den Schotten, Nordiren und anderen, sowie in den letzten Jahren mit den Israelis und Arabern angelegt hat (was für seine Ernsthaftigkeit spricht), weil es ihm – wie wir wissen – nicht gelang, wirklich durchzugreifen. Alle aus dem linken Flügel? Das höre ich Dich schon sagen, mit Deiner schönen kleinen Schnute...

Nehmen wir also einen aus unseren Reihen! Den Schweden und ehemaligen Regierungschef Carl Bildt, der immer zum Kreis der Eingeweihten gehörte und die Bosnier lange daran hinderte, sich gegenseitig abzuschlachten. Eine wahrhaftige Praxiserfahrung! Oder sollten wir den Belgiern lieber eine Frau anbieten? Die Irin Mary Robinson? Sie ist eine Dame. Du verstehst doch ein bisschen Deutsch, oder tust Du nur so?

Wie man mir sagt, mögen die Belgier allerdings keine unverhofften Besuche. Jedenfalls die Wallonen. Und was, wenn wir ihnen einfach eine europäische Methode empfehlen: eine Verfassung? Vor der letzten Großreform haben wird die Mark geopfert. Du erinnerst Dich? Europa ließ damals 105 Beauftragte aus allen Institutionen und Bereichen in Ruhe darüber beraten, wie die Zukunft aussehen soll. Unter der imperialen Präsidentschaft Deines Vorgängers Valéry Giscard d’Estaing, zog sich diese Übung langsam über zwei Jahre hin. Uns gab es damals nicht. Weder Dich noch mich.

Aber Dominique de Villepin könnte Dir das erzählen – solltest Du ihm noch zuhören. Das ist ein schöner Mann. Ein bisschen so wie Yves…

Die Belgier von damals könnten ihren noch-immer-Landsleuten – Jean-Luc Dehaene, Louis Michel, Karel De Gucht, Elio Di Rupo und Anne Van Lancker (Wer ist das nochmal?) – davon berichten.

Lieber Nicolas!

Lass uns proaktiver sein als in Tunesien oder Ägypten! Aber Vorsicht vor WikiLeaks! Wenn die politische Krise Belgiens sich weiter in die Länge zieht, muss eine gemeinsame Underground-Aktion organisiert werden. Die sympathischen Demonstranten vom 23. Januar könnten dann „spontan“ auf die Straße zurückkehren. Diesmal am Schuman-Kreisverkehr, um von der Europäischen Kommission zu verlangen, dass sie die politischen Verantwortungsträger Belgiens dazu auffordert, einen Zahn zuzulegen. Die Demonstranten würden die EU-Grundrechte-Charta hochhalten. Als wesentlicher Bestandteil unseres Vertrags von Lissabon enthält sie in ihrem Artikel 41 das „Recht auf eine gute Verwaltung“. Die Frankophonen aus dem Umkreis des Brüsseler Landes würden vorher plakatgroße Kopien von Artikel 21 zur „Nichtdiskriminierung“, sowie von Artikel 22 zur „Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen“ anfertigen. Ein jeder würde „Ich bin ein Brüsseler!“ schreien. Ja, ich bin von einem guten Team umgeben…

Die Juristen der Europäischen Kommission würden zusammenzucken. Soviel ist sicher. Aber sie sind es gewohnt, sich zu fügen, wenn das deutsch-französische Paar – wie Ihr es nennt, Ihr Franzosen – es verlangt…

Nikolaki!

(Giorgos Papandreou nenne ich „Yorgaki“…) Du weißt, dass mir dieses Jahr zehn Landtagswahlen bevorstehen. Alle sind entscheidend. Meine Wähler wollen auch nicht mehr für die armen Faulenzer zahlen…

Deshalb werde ich unerbittlich sein! Mit den Spaniern, den Sozialisten! Mit den Portugiesen, den Sozialisten! Mit den Belgiern, wenn auch keine Sozialisten, so aber von ihnen abhängig! Nicht eine Laxheit in Haushaltsfragen wird mehr toleriert. Wenn es sein muss, werde ich allein Strafen verhängen!

Ach! Wenn die Belgier sich trennen, Niko, dann wird es auch nicht besser. Wenn man ihre Schulden teilt, wird der Euro wieder die Zeche zahlen müssen! Darüber müssen wir beim nächsten Mal mit Yves sprechen. Er ist sympathisch. Was für ein Schlamassel.

Grüß Carla.

Kuss,

Angela

Aus dem Französischen von Julia Heinemann

*Auf Deutsch im Originaltext

© Le Soir. Tous droits réservés.info@copiepresse.be

Tags
Interessiert an diesem Artikel? Wir sind sehr erfreut! Es ist frei zugänglich, weil wir glauben, dass das Recht auf freie und unabhängige Information für die Demokratie unentbehrlich ist. Allerdings gibt es für dieses Recht keine Garantie für die Ewigkeit. Und Unabhängigkeit hat ihren Preis. Wir brauchen Ihre Unterstützung, um weiterhin unabhängige und mehrsprachige Nachrichten für alle Europäer veröffentlichen zu können. Entdecken Sie unsere drei Abonnementangebote und ihre exklusiven Vorteile und werden Sie noch heute Mitglied unserer Gemeinschaft!

Sie sind ein Medienunternehmen, eine firma oder eine Organisation ... Endecken Sie unsere maßgeschneiderten Redaktions- und Übersetzungsdienste.

Unterstützen Sie den unabhängigen europäischen Journalismus

Die europäische Demokratie braucht unabhängige Medien. Voxeurop braucht Sie. Treten Sie unserer Gemeinschaft bei!

Zum gleichen Thema