Nicolas Sarkozy: "Und die Länder, die den Gürtel nicht enger schnallen wollen?" - Angela Merkel: "Die kriegen eins auf den Deckel"

Liebling, ich hab den Sozialstaat geschrumpft

Angela Merkels und Nicolas Sarkozys Pakt für Wettbewerbsfähigkeit ist sicher ehrgeizig. Aber in den meisten Ländern Europas bringt er einen traditionsreichen Sozialstaat in Gefahr, warnt El País.

Veröffentlicht am 7 Februar 2011 um 15:09
Kichka  | Nicolas Sarkozy: "Und die Länder, die den Gürtel nicht enger schnallen wollen?" - Angela Merkel: "Die kriegen eins auf den Deckel"

Auf dem letzten Europäischen Gipfel wurde die Büchse der Pandora geöffnet. Auf Vorschlag von Angela Merkel (unterstützt von einem wohlwollenden Nicolas Sarkozy) wurde erstmals über einen Plan zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeitfür die Eurozone geredet, der ein Gegenpol zur Erweiterung und Flexibilisierung des Rettungsfonds für angeschlagene Länder sein könnte. Dies ist ein weiterer Schritt hin zur Überwindung der reinen Währungsunion und hin zur so erwünschten europäischen Wirtschaftsregierung.

Im Kern beinhaltet dieser Pakt die Abkopplung der Löhne von der Inflation (die neue Verbindung wäre dann die zwischen Löhnen und Produktivität), die gesetzliche Beschränkung des Staatsdefizits, eine Schuldenbremse, die Vereinheitlichung des Renteneintrittsalters in Europa, eine einheitliche Bemessungsgrundlage für die Unternehmenssteuer, eine einheitliche Rettungsstrategie für in Not geratene Banken sowie die gegenseitige Anerkennung von Bildungs- und Weiterbildungsabschlüssen.

Konservativer Pakt von konservativen Regierungen

Nur: es gibt keinen einheitlichen, vorgezeichneten Weg hin zur Wirtschaftsregierung. Der Weg, den man jetzt beschlossen hat einzuschlagen, folgt der Logik der konservativen Mehrheit der europäischen Staats- und Regierungschefs. Deutschland und Frankreich werden von konservativen Kräften regiert und verwaltet, und derselben politischen Familie gehören der ständige EU-Ratspräsident Van Rompuy und Kommissionspräsident Barroso an, ganz zu schweigen vom Chef der Europäischen Zentralbank (EZB) Jean-Claude Trichet. Dies ist die politische Führungselite, die gegenwärtig den Ausweg aus der Krise steuert und gleichzeitig auch über die Zukunft der Europäischen Union entscheidet.

Der Plan zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit ist noch nicht endgültig angenommen, eine abschließende Ausgestaltung auf den nächsten EU-Gipfel im März vertagt. Dem Vernehmen nach gab es wohl Meinungsverschiedenheiten über seine praktische Funktionsweise und die genauen Inhalte. Seine Annahme hängt von den Wirtschaftsministern der Eurozone ab, was prompt zu Prostenten in der Kommission führte: wozu dient nun die Europäische Kommission, wenn sie bei einer so weitreichenden Reform wie dieser umgangen wird?

Das Beste vom europäischen Journalismus jeden Donnerstag in Ihrem Posteingang!

Europa verharrt in Starrheit

Angesichts des Plans fragen sich nun gleichsam Länder und Experten aus Sozial- und Wirtschaftspolitik, was denn noch vom europäischen Modell des Sozialdialogs übrigbleibt, wenn die Löhne und das Rentenalter von oben diktiert würden. Wozu dienen dann noch die Sozialpakte, die Teil der europäischen Kultur sind? Wenn nun in den Tarifverhandlungen die Lohnabschlüsse vom (vergangenen, nicht dem jetzigen) Preisanstieg abgekoppelt werden, dann kann die Revisionsklausel ad acta gelegt werden. Gerade dadurch ist es eben möglich, die Lohnerhöhungen an die Inflation anzupassen und damit auch einem konstanten Verlust der Kaufkraft entgegenzuwirken, wobei die Unternehmen ihre Verluste ausgleichen konnten.

Gegenüber dem amerikanischen Pragmatismus verharrt Europa in seiner bekannten Starrheit. Wie wird Europa aus der kommenden Rezession herausfinden, wenn die Schuldenbremse eingeführt wird? Mit Ausnahmen für bestimmte Länder gelten, je nach deren Gewicht, so wie es Deutschland und Frankreich gemacht haben, als sie in fünf aufeinanderfolgenden Haushaltsjahren seit 2001 (als von der großen Rezession noch keine Rede war) die Defizitgrenze von 3 Prozent des BIP überschritten, die im Wachstums- und Stabilitätspakt stand? Oder wie Italien, wo die öffentliche Verschuldung stetig ansteigt (auf 60 Prozent des BIP), oder wie Sarkozy, der den Anstieg des Renteneintrittsalters als Wunderwaffe für die anderen Länder anpreist, während das eigene Land unter dem europäischen Durchschnitt liegt?

Die große Rezession hat ihre Spuren hinterlassen, unter anderem auch in einer immer restriktiveren Auslegung des europäischen Sozialmodells, ohne dabei zu fragen, wer denn die Hauptverantwortlichen waren, welche ideologischen Grundlagen dazu geführt haben und wer letztlich am meisten von dem Ungleichgewicht, das man nun wieder ins Lot bringen möchte, profitiert hat. All das ist besorgniserregend.

Aus dem Spanischen von Ramona Binder

Aus Budapest

Orban verkraftet die deutsch-französische Initiative nicht

„Ein ausgedehntes Mittagessen mit Verdauungsschwierigkeiten“, titelt die Zeitung Népszabadság. Viktor Orban sei das Arbeitsessen der europäischen Staats- und Regierungschefs vom 4. Februar nicht gut bekommen. Denn der von Frankreich und Deutschland vorgestellte Pakt zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit stellt das Programm des ungarischen Premierministers in den Schatten, das er im Laufe der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft von den 27 EU-Mitgliedern, verabschieden lassen wollte. Die Tageszeitung erläutert, dass die sechs Maßnahmen, die Orban bald vorschlagen wird, z.B. die Harmonisierung der Wirtschaftspolitik und die Überprüfung der wirtschaftlichen Erfolge nur schwer mit dem deutsch-französischen Pakt zu vereinen seien. Laut der Tageszeitung Népszabadság hat Orban zwar die Notwendigkeit, den Euro zu verteidigen erkannt, bedauert aber, dass in diesem Zusammenhang nicht eine Debatte über das „Kerneuropa“ und das „Europa der Peripherie“ geführt wird.

Tags
Interessiert an diesem Artikel? Wir sind sehr erfreut! Es ist frei zugänglich, weil wir glauben, dass das Recht auf freie und unabhängige Information für die Demokratie unentbehrlich ist. Allerdings gibt es für dieses Recht keine Garantie für die Ewigkeit. Und Unabhängigkeit hat ihren Preis. Wir brauchen Ihre Unterstützung, um weiterhin unabhängige und mehrsprachige Nachrichten für alle Europäer veröffentlichen zu können. Entdecken Sie unsere drei Abonnementangebote und ihre exklusiven Vorteile und werden Sie noch heute Mitglied unserer Gemeinschaft!

Sie sind ein Medienunternehmen, eine firma oder eine Organisation ... Endecken Sie unsere maßgeschneiderten Redaktions- und Übersetzungsdienste.

Unterstützen Sie den unabhängigen europäischen Journalismus

Die europäische Demokratie braucht unabhängige Medien. Voxeurop braucht Sie. Treten Sie unserer Gemeinschaft bei!

Zum gleichen Thema