Presseschau Open Europe

Europas „Papierwaffen” gegen Migranten 

Die europäischen Flüchtlingsdeals im Kampf gegen Einwanderung weiten sich aus: Nach der Türkei, Libyen und Tunesien wird nun Mauretanien von der Europäischen Union umworben. Während Spanien Schwierigkeiten hat, die auf den Kanaren ankommenden Flüchtlinge aufzunehmen, erwägt Frankreich, das Geburtsortprinzip (Ius soli) in Mayotte abzuschaffen.

Veröffentlicht am 28 Februar 2024

Hochmoderne Ausrüstung, Truppen und Zäune nehmen einen wichtigen Platz im Arsenal ein, das Europa in seinem Krieg gegen die Migration aufbietet. Aber es sind die Verträge, Abkommen und Deals, die die europäische Flüchtlings- und Migrationspolitik überhaupt erst möglich machen. Manche Waffen sind aus Metall, andere aus Papier.

Ein (nicht so) grundlegendes Recht: Das Geburtsortprinzip (Ius soli) auf Mayotte

Ein paar Worte weniger in einem Text können einen großen Unterschied machen. In Frankreich will die Regierung die Verfassung ändern und das Geburtsortprinzip im französischen Übersee-Département Mayotte abschaffen.

Das ist nichts Neues: Die Inselgruppe im Indischen Ozean, die 1841 an Frankreich abgetreten wurde, seit 2011 ein französisches Departement ist und heute 300.000 Seelen beheimatet, war schon oft Gegenstand solcher Maßnahmen. Denn das ärmste Departement Frankreichs gilt als „zu attraktiv” für Migranten aus der benachbarten Inselgruppe der Komoren, die nur einige Dutzend Kilometer entfernt liegt. 

Bisher erhält ein Kind in Frankreich, dessen Eltern beide Ausländer sind, an seinem 18. Geburtstag automatisch die französische Staatsangehörigkeit, sofern es ab seinem elften Lebensjahr fünf Jahre lang ununterbrochen oder nicht ununterbrochen im Land gelebt hat. Ein Gesetz aus dem Jahr 2018 fügt jedoch eine weitere Bedingung hinzu: Ein in Mayotte geborenes Kind muss zum Zeitpunkt der Antragstellung „nachweisen, dass sich ein Elternteil zum Zeitpunkt seiner Geburt seit mindestens drei Monaten legal auf französischem Hoheitsgebiet befand” , wie Esther Serrajordia in La Croix erklärt. Die Regierung möchte also Kindern ausländischer Eltern, die sich erst seit kurzem im Département niedergelassen haben oder nur ein Touristenvisum besitzen, die französische Staatsbürgerschaft verweigern, stellen Adel Miliani und William Audureau in Le Monde fest. Die Argumente, mit denen diese Maßnahme verteidigt wird, können die Experten jedoch nur schwer überzeugen.

„Rein rechnerisch gesehen ist es schwierig, dem französischen Innenminister Gérald Darmanin Glauben zu schenken, wenn er behauptet, dass die Abschaffung des Geburtsortprinzips in Mayotte ‘eine echte Lösung’ darstellen und ‘die Zahl der Aufenthaltsgenehmigungen um 90 Prozent senken wird’”, erklären die Professoren für öffentliches Recht Marie-Laure Basilien-Gainche, Jules Lepoutre und Serge Slama ebenfalls in Le Monde. Sie argumentieren, dass die Quote der Ausländer, die dank des Geburtsortprinzips in Mayotte Franzosen geworden sind, etwas unter dem nationalen Durchschnitt liegt. „Das Recht auf Staatsangehörigkeit hat also keine anziehende Wirkung und erklärt nicht die Zahlen der irregulären Einwanderung”, meinen sie.


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„Wer glaubt schon, dass diese Maßnahme die Probleme von Mayotte lösen wird?”, fragt sich die französische Juristin Claire Rodier in Alternatives Economiques und ist sich sicher, dass sie die prekäre Lage der auf der Inselgruppe geborenen Kinder nur noch verschärfen wird, ohne die Ausreise zu bremsen. In Mayotte [...] bleibt das BIP dank der vom Staat gezahlten Subventionen siebenmal höher als das der anderen Komoren”, erklärt sie weiter. „Die Insel wird somit aufgrund der historischen Anomalie, die sie zu einem französischen Département macht, immer ‘attraktiv’ bleiben. Die Lösung liegt also nicht in der Repression.”

Mauretanien, ein neuer Subunternehmer für die EU

In Anlehnung an das Abkommen, das 2023 mit Tunesien geschlossen wurde, möchte die EU jetzt eine Partnerschaft mit Mauretanien aufbauen, um unter anderem die Migration aus Nordwestafrika einzudämmen. 

Die Einzelheiten des Abkommens, das während einer Reise nach Nouakchott von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Spaniens Regierungschef Pedro Sánchez vorgestellt wurde, müssen noch ausgearbeitet werden. Das EU-Paket sieht bis Ende 2024 die Bereitstellung von 210 Millionen Euro vor, die unter anderem für die Koordination der Migration, humanitäre Hilfe und Investitionen in die Beschäftigung bereitgestellt werden sollen.

Die Partnerschaft ist für Spanien von besonderem Interesse: Die Ankunft von Exilanten aus Mauretanien auf den Kanarischen Inseln hat Anfang 2024 stark zugenommen. „Allein im Januar waren von den über 7.200 Personen, die die Inseln über diesen riskanten Seeweg erreicht hatten, 83% aus Mauretanien gekommen”, schreibt Carlos E. Cué in El País. Mauretanien sieht sich derzeit mit einer steigenden Zahl von Migranten auf seinem Territorium konfrontiert, insbesondere aus dem benachbarten Mali. Laut der spanischen Tageszeitung sollen sich derzeit mehr als 150.000 Malier in mauretanischen Flüchtlingslagern befinden.

Unter Berufung auf Quellen aus der spanischen Delegation, die bei dem Treffen anwesend war, erklärt Cué, dass „die Grundidee [dieser Art von Abkommen] darin besteht, die Migranten gar nicht erst bis an die europäischen Grenzen kommen zu lassen, sondern die Nachbarländer damit quasi zu zwingen, sie einzudämmen”. Ein pragmatisches Manöver, bei dem Europa sich der möglichen Risiken durchaus bewusst ist. „Mit dieser Strategie geht die EU davon aus, dass [die Partnerländer] die Einwanderung hart und ohne besondere Achtung der Menschenrechte unterdrücken. Hauptsache, ihr politisches Ziel wird erreicht und das besteht darin, dass die Einwanderung nicht die europäischen Küsten oder die Zäune von Ceuta und Melilla erreicht”, berichtet Cué. „Die europäischen Staats- und Regierungschefs nehmen die Kosten in Kauf, die durch diese Art der Auslagerung von Migrationskrisen entstehen können. Eine Strategie, die mit dem Abkommen mit der Türkei begonnen hat.”

Die Organisation der Ausreisen auf die Kanarischen Inseln wird noch schwieriger, wenn man die heikle Frage hinzufügt, wie die verschiedenen autonomen Regionen Spanien die Exilanten versorgen sollen, erklärt Joaquín Anastasio für La Provincia

Anastasio zufolge stellt die Aufnahme der auf den Kanarischen Inseln und in anderen spanischen Grenzregionen angekommenen Menschen jetzt bereits „ein Verwaltungsproblem dar, bei dem jede autonome Gemeinschaft dazu neigt, wegzuschauen, ohne dass der Staat in der Lage wäre, Abhilfe zu schaffen.” 

Die Verteilung der Exilanten - unter denen sich viele Minderjährige befinden - wird somit zu einem administrativen Puzzle. Die Umsetzung wird dadurch noch weiter verzögert und, wie Anastasio hinzufügt, besteht die Gefahr, dass die Migration erneut als politische Waffe eingesetzt wird, diesmal innerhalb eines Staates. Bei solchen Deals wird vergessen, dass die in Brüssel, Paris oder Madrid getroffenen Entscheidungen in Wirklichkeit nicht nur aus ein paar Worten auf Papier bestehen.


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ECF, Display Europe, European Union

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