Michel Barnier während einer Pressekonferenz in Brüssel im Juli 2011.

Michel Barnier, der große Regulator

Fünf Jahre nach der Pleite von Lehman Brothers, zieht Michel Barnier, der damals mit der Regulierung der europäische Finanzmärkte beauftragt war, Bilanz. Während sich seine Amtszeit als EU-Binnenmarktkommissar dem Ende zuneigt, strebt er nach Höherem: das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission.

Veröffentlicht am 13 September 2013 um 15:57
Michel Barnier während einer Pressekonferenz in Brüssel im Juli 2011.

In Brüssel ist die Tabelle des Michel Barnier fast so bekannt wie Michel Barnier selbst. Immer, wenn der EU-Binnenmarktkommissar einen Termin wahrnimmt, hat er es dabei: ein DIN-A4-Blatt mit der berühmt-berüchtigten Tabelle. Der Laie würde nur eine knallbunte Excel-Tabelle mit technischem, unverständlichen Fachjargon erkennen. Doch der großgewachsene Mann mit dem schlohweißen Haarschopf wird sein Gegenüber rasch eines Besseren belehren. Man solle sich nur darüber beugen: Es handele sich um alle Maßnahmen, die im Jahr 2009 von den Staatschefs des G20-Gipfels eingefordert wurden, um die am Rande des Abgrunds wankenden Finanzmärkte in den Griff zu bekommen. Jedesmal, wenn eine der Maßnahmen auf europäischer Ebene umgesetzt wird, malt er das entsprechende Feld bunt aus. Und mit der ihm charakteristischen Ernsthaftigkeit erklärt er, dass es in der Tabelle keine weißen Felder mehr gibt.

Ob Journalisten, Banker, Anwälte oder vor nicht allzu langer Zeit François Hollande: Allen hat er diese Tabelle vorgelegt, die jüngst in einer kleinen Broschüre ästhetisch ansprechender veröffentlicht wurde. Selbst Papst Benedikt XVI konnte ihr nicht entrinnen, als er Barnier zu einer Audienz empfing. Das war im vergangenen Februar, drei Tage vor seinem Rücktritt. Das Foto dieses Moments hat auf dem Schreibtisch des EU-Kommissar einen Ehrenplatz..., denn der ehemalige französischen Minister sieht in dem Dokument den Beweis seines Erfolgs. „Wir haben uns um alle Bereiche gekümmert, die reguliert werden mussten“, erklärt er.

Der Regulierungs-Tsunami

Als er sein Amt übernahm, ein Jahr nach der Lehman-Pleite, bekam er eine eindeutige Roadmap in die Hand: Die Finanzmärkte, auf welche die Politiker aller Welt mit dem Finger zeigten, sollten neue Rahmenbedingungen bekommen. Mit Heißhunger stürzte er sich auf seine Aufgabe. Rund 30 Texte wurden vorgestellt oder verabschiedet. „Ein Regulierungs-Tsunami“, wie ein Banker der Londoner City bedauert. Kaum einer der Akteure wurde verschont, ob nun Wirtschaftsprüfer, Ratingagenturen, Hedge Fonds, Banken und so weiter... Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise, in den Jahren 2011 und 2012, kam ungefähr ein Drittel aller Kommissions-Vorschläge aus der Behörde von Michel Barnier.

Eine Regulierungs-Frenesie, die im kompletten Gegensatz zur jüngeren Vergangenheit steht. Bis zum Bankrott von Lehman Brothers galt die EU-Kommission als eine der schärftsen Verfechtererinnen der Deregulierung. Einige Beamte erinnern sich noch an die Wutausbrüche von Barniers Vorgänger Charlie McCreevy, wenn man diesem einen Gesetzestext anriet. „Die Finanzmärkte brauchen keine Rechtsvorschriften! Geht Skifahren oder nach Hause!“

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„Der gefährlichste Mann Europas”

2009, als die neue EU-Kommission ihre Arbeit aufnahm, war solch eine Haltung natürlich nicht mehr tragbar. [[Und der Mann, der auf die Ruinen der Nach-Lehman-Zeit katapultiert wird, hat fast keinen blassen Schimmer vom Trading oder von Derivat-Geschäften.]] Und so kam er auf die Idee, sein Programm auf einen einzigen Satz zu reduzieren, den er Woche pro Woche auf den zahlreichen Konferenzen, an denen er in ganz Europa teilnimmt, wiederholt: „Kein Finanzplatz, kein Finanzprodukt wird von der Regulierung verschont bleiben.“ Der Satz war nicht willkürlich gewählt: Nur einige Tage vor seiner Ernennung hörte er ihn aus Angela Merkels Mund. Und wenn man in Brüssel überdauern will, kann es nicht schaden, der wirklichen Chefin zu folgen...

Symbolisch wählte er auch Anfang 2010 London für seinen ersten offiziellen Besuch außerhalb Brüssels. Zu sagen, dass die britische Regierung absolut keine Lust hatte, einen Franzosen zu sehen, der die City unter die Lupe nehmen und regulieren wollte, ist eine höfliche Untertreibung. Barnier war für sie wie ein Fuchs im Hühnerstall. „The most dangerous man in Europe”, titelte damals die große Tageszeitung The Daily Telegraph, Sprachrohr der Euroskeptiker.

Bei den Verhandlungen über die verschiedenen Texte hat er immer alles darangesetzt, dass London nicht isoliert oder überstimmt wird. Was in der Tat dann auch nur einmal in vier Jahren passierte — bei der Frage einer Obergrenze für Banker-Boni. „Ich habe keine Probleme mit den Briten. Und ich glaube, sie haben auch begriffen, dass ich kein Ideologe bin“, versichert er. Bei den Beziehungen zum britischen Schatzmeister George Osborne gibt es weiterhin Aufs und Abs, ist in diplomatischen Kreisen zu hören. Und die City misstraut dem ach so französischen Kommissar noch immer.

Eine gelobte Bilanz

Bei den anderen Europäern ist von Misstrauen nichts zu spüren. Die Stunde der Bilanz schlägt bald. Und die von Barnier, fünf Jahre nach der Lehman-Pleite, wird in EU-Kreisen insgesamt gelobt. In einer EU-Kommission, in der die Willensschwachen und Unauffälligen zahlreich vertreten sind, zeichnet er sich durch seinen Aktivismus aus. „Im Großen und Ganzen sind ihm recht ehrgeizige Reformen gelungen, und das in einem Bereich, wo der Druck von außen sehr hoch ist“, urteilt ein Kenner der EU-Interna. Die Vorsichtsregel von Basel III sind nun für den Bankensektor verbindlich, Derivat-Geschäfte werden nun transparenter, um nur zwei wichtige Beispiele zu nennen. Andere speltakuläre Neuerungen kamen nicht von ihm, wie die Obergrenze für Banker-Boni oder das Verbot von ungedeckten Leerverkäufen — doch er hat diese Forderungen des EU-Parlaments geschickt nutzen können.

Und so konnte er das ganze blatt farbig ausmalen. Ein Erfolg, der aber auch seine größte Schwäche ist. „Diese Tabelle, das ist nur ein Abhaken von Punkten. Es gibt keine Strategie. Und er ist nicht in der Lage gewesen, eine Vision davon zu geben, wie die Finanzbrache in Zukunft strukturiert sein soll“, meint ein Insider. So wurde die wohl wichtigste Baustelle des Sektors, die Bankenunion, anfangs von Mario Draghi und einigen europäischen Spitzenpolitikern auf den Tisch gebracht. Michel Barnier aber verteidigt seine Bilanz hartnäckig. Sie ist für ihn das beste Argument, um die eine Stufe zu erklimmen, die ihm noch fehlt.

Denn der Ex-Minister klammert sich an seinen Traum: Und wenn er es wäre, der die Nachfolge von José Manuel Barroso antritt? Sein Name wird oft genannt, auch wenn seine Chancen in den Augen der Beobachter als eher gering eingeschätzt werden. Er selbst weigert sich weiterhin, sich dazu zu äußern. Verutlich, weil er überzeugt ist, dass er der Kandidat des Kompromisses sein könnte, sollte die kommenden Europawahlen in ein zutiefst gespaltenes Parlament münden. „Ich bin bereit, überall dahin zu gehen, wo man mich als nützlich erachtet“, antwortet er lediglich. Bis dahin bleibt ihm ja Zeit, eine neue Tabelle zu erstellen.

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