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Natalia – so gut integriert, dass sie gehen muss

Natalia kam vor acht Jahren mit ihrer Familie aus Chile. In den letzten Jahren hat sie ihr Bestes gegeben um zu beweisen, dass sie eine Aufenthaltserlaubnis verdient. Aber jede ihrer Bemühungen wurde vom Einwanderungssystem gegen sie verwendet. Dies ist der fünfte und letzte Artikel aus einer Serie über junge Europäer ohne Papiere in Zeiten des Coronavirus – eine Zusammenarbeit zwischen Lighthouse Reports und dem Guardian.

Veröffentlicht am 9 Oktober 2020 um 08:00

Es kam ihnen vor, als würden sie hinterlistig ausgetrickst. Natalia Robledo-Contreras kann noch immer nicht glauben was an dem Tag geschah, als sie und ihre jüngere Schwester erstmals eine Aufenthaltserlaubnis in den Niederlanden beantragten. Der Beamte der Einwanderungsbehörde weigerte sich, die Anträge der Mädchen entgegenzunehmen und verlangte, dass ihre Eltern in das Büro kommen. Er behauptete ihre Sorgerechtsbescheinigungen seien nicht ausreichend. Natalia, damals 17, und ihre Rechtsanwältin wurden misstrauisch. War dies vielleicht ein Trick, um ihre Eltern zu verhaften, die wie die beiden Schwestern keine Papiere hatten? Aus diesem Grund waren die Mädchen alleine auf das Amt gegangen. 

Da aber der Beamte sich strikt weigerte, die Formulare anzunehmen, beschloss Natalias Mutter zum Büro der Einwanderungsbehörde zu kommen. Sie wurde unmittelbar bei ihrer Ankunft verhaftet. „Ich weinte ununterbrochen, selbst als meine Mutter später an diesem Tag wieder freigelassen wurde“, berichtet Natalia. „Ihr wurde befohlen, das Land sofort zu verlassen.“  

An diesem Tag im Jahr 2012 begann Natalias Odysee auf dem Weg zum legalen Aufenthalt in den Niederlanden – einem Land, in dem sie zu diesem Zeitpunkt bereits seit neun Jahren lebte. Bei jedem Schritt versuchte sie, das Richtige zu tun, und jedes Mal wurden diese Bemühungen gegen sie verwendet. Letzten Endes verlor Natalia durch dieses Verfahren ihre Familie. 

Natalias Vater floh 2001 vor der Armut und der Arbeitslosigkeit in Chile, weil ein Verwandter im geholfen hatte, in den Niederlanden Arbeit zu finden. Es war aber Schwarzarbeit und so hatten seine Frau und seine zwei Kinder, die ihm ein Jahr später folgten, ebenfalls keine Papiere. Als Achtjährige wollte Natalia ihre Heimatstadt Santiago zunächst nicht verlassen. Aber sie war ein braves Mädchen, das sich anstrengte und Verantwortung übernahm. In den Niederlanden war sie sehr gut in der Schule.

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Mindestens vier Jahre zu warten

Die Familie hatte auf verschiedenen Wegen versucht, in den Niederlanden einen legalen Aufenthaltsstatus zu erlangen, wurde aber nicht zugelassen. Ein Rechtsanwalt empfahl Natalias Familie, mindestens vier Jahre zu warten, bis die Kinder durch die Schule und den Niederländischunterricht in den Niederlanden verwurzelt seien, und erst dann die Aufenthaltserlaubnis für die Schwestern zu beantragen. „Gute Noten wären für den Antrag gut, dachte die Familie“, meint Natalia. „Oft ging ich nur von der Schule nach Hause und wieder zur Schule, ohne etwas anderes zu tun.“

Natalia ist inzwischen eine 25jährige Jurastudentin und geht durch den Amsterdamer Bahnhof. Normalerweise würde sie hier auf dem Weg zu ihrer Universität durchkommen, aber der sonst sehr geschäftige Bahnhof ist nun wegen der Ausgangsbeschränkungen durch das Coronavirus fast leer. Sie finanziert ihr Studium durch die Arbeit als Reinigungskraft, aber seit Beginn der Pandemie gibt es fast nichts mehr zu tun. Trotzdem ist Natalia bewusst, dass es anderen noch schlechter geht: „Tausende Hausangestellte ohne Papiere wurden von ihren Kunden ebenfalls entlassen.“ 

Natalia spricht leise, aber mit leidenschaftlicher Stimme über die Kämpfe, die Arbeitskräfte ohne Papiere auszufechten haben. Sie ist Vorsitzende des Migrant Domestic Workers Board im niederländischen Gewerkschaftsbund (FNV) und aktuell das Gesicht der Kampagne für finanzielle Unterstützung der Haushaltsangestellten ohne Papiere, die in der Corona-Krise ihr Einkommen verloren haben. „Gefilmt zu werden finde ich unangenehm", räumt sie ein. „Aber sie fragen meistens mich, weil ich gut Niederländisch kann.“

Aktivismus liegt in der Familie. Ihre Mutter nahm in Chile an Demonstrationen gegen das Pinochet-Regine teil. „Meine Oma ist mein großes Vorbild“, sagt Natalia mit einem strahlenden Lächeln. „Sie war Mitglied einer Frauengewerkschaft für Landarbeiterinnen. Darauf bin ich wirklich stolz“.

Natalia musste jedoch feststellen, dass diese Familie, in der sie Kraft und Mut schöpft, aufgrund des Einwanderungssystems zum größten Hindernis für ihren Traum einer Aufenthaltserlaubnis in den Niederlanden wurde. Nachdem ihre Mutter 2012 inhaftiert worden war, führten die niederländischen Einwanderungsbehörden den undokumentierten Status ihrer Eltern als Grund dafür an, Natalia und ihrer Schwester eine Aufenthaltserlaubnis zu verweigern.

Restriktive Einwanderungsrichtlinien wie die in den Niederlanden und Norwegen können für Familien ohne Papiere höchst merkwürdige Anreize schaffen. Da der Weg zum legalen Aufenthalt für das Familienoberhaupt so schwer ist, befürchten die Behörden, dies sei ein Anreiz für Einwanderer, zunächst Aufenthaltstitel für ihre Kinder zu beantragen. Die Einwanderungsbehörde nutzten die Annahme, Natalias Eltern könnten von ihrem legalen Aufenthaltsstatus profitieren und die Familienzusammenführung beantragen, als Argument gegen Natalia. 

„Dieses Standardargument nutzen die niederländischen Einwanderungsbehörden in Fällen undokumentierter Familien oft gegen Kinder“, meint Natalias Einwanderungsanwältin Corinne de Klerk. Einige Familien trennen sich daher von ihren Kindern oder leugnen jeden Kontakt, um deren Antrag zu unterstützen. „Ich weiß sogar von einem Fall, in dem die Eltern so taten, als seien sie aus dem Leben ihres Kindes verschwunden“, berichtet de Klerk. „Das Kind lebt jetzt in einer Pflegefamilie, weil die Eltern wussten, dass ihre Anwesenheit sonst ein Nachteil für den Antrag ihres Kindes bedeuten würde.“

Der Kinderrechtsvertrag der Vereinten Nationen legt fest, dass Länder Kinder nicht wegen ihrer Eltern diskriminieren sollen und dass in Einwanderungsfällen das Wohl der Kinder vorrangig zu berücksichtigen sei. Niederländische Oppositionsparteien haben einen Gesetzentwurf zur Übernahme dieses Artikels in niederländisches Recht vorgelegt.

„Diese guten Noten und mein Niederländischunterricht sollten meine Integration in die niederländische Gesellschaft belegen. Aber die Beamten verwendeten sie gegen mich. Sie meinten zu mir, ich sei klug genug, um mich an ein Leben in Chile anzupassen.“ 

Zwar gibt es nur wenige zuverlässige Schätzungen zur Anzahl undokumentierter Personen in den Niederlanden, aber eine Studie aus dem Jahr 2013 bezifferte sie mit 35.530. 2016 ergab eine Umfrage einer medizinischen Hilfsorganisation in Amsterdam, dass rund 15 Prozent ihrer Patienten Kinder ohne Papiere hatten. 

Trotz der Ungewissheit rund um ihre Familie erzielte Natalia eine der besten Abiturnoten ihres Jahrgangs. Sie war sich sicher, dass gute Schulnoten sich gut machen würden, und nahm ihre Schulzeugnisse zu den regelmäßigen Treffen mit der Einwanderungsbehörde mit. „Diese guten Noten und mein Niederländischunterricht sollten meine Integration in die niederländische Gesellschaft belegen“, sagt sie. „Aber die Beamten verwendeten sie gegen mich. Sie meinten zu mir, ich sei klug genug, um mich an ein Leben in Chile anzupassen.“ 

Beim einen Termin bekam sie zu hören, sie sei nicht integriert genug, beim nächsten hieß es dann, sie sei zu gut integriert.

Auch musste Natalia „hinsichtlich ihrer Rückführung kooperieren“, um einen Antrag auf eine Aufenthaltserlaubnis stellen zu dürfen. „Wir wurden aufgefordert, Flüge nach Chile zu buchen, eine niederländische Reality-TV-Show anzusehen, in der es um Menschen ging, die in Chile ein gutes Leben hatten,“ erzählt Natalia. Dieser Prozess verängstigt viele Menschen so sehr, dass sie rechtliche Schritte einstellen, berichtet Frau De Klerk. „Sie üben Druck aus, damit man geht,“ ergänzt Natalia seufzend. „Nach einer Weile weiß man nicht mehr, was man tun soll, um sein Verfahren zu unterstützen.“

Nach fünf Jahren des Kampfes mit dem System verlor Natalia 2017 ein Einspruchsverfahren in ihrem Verfahren zur Erlangung einer Aufenthaltserlaubnis und wurde mit einer Einreisesperre belegt. Ab diesem Zeitpunkt lebte sie illegal in den Niederlanden.

Als Putzfrau zu arbeiten

„Ich verlor alles. Ich konnte nicht einmal mehr von einer Zukunft für mich träumen,“ sagt sie. Die Situation belastete ihre gesamte Familie. „Man wird mit der Zeit unglücklicher und hat das Gefühl, einen Schuldigen suchen zu müssen. Ich begann, meinem Vater seine Entscheidung zum Umzug in die Niederlande vorzuwerfen. Ich begann, ihn zu ignorieren.“ Natalia schaut zu Boden und ringt um die richtigen Worte. „Die gesamte Situation zerreißt Dich nach und nach und irgendwann denkst Du, es könne besser sein, sich voneinander zu trennen.“ 

Natalia schaudert. Das Leid, das die jahrelange Unsicherheit verursacht hat, wird plötzlich deutlich und nimmt einem den Atem. Das Land, in dem sie geboren war, wurde zu einem völlig fremden Gedanken.

„Chile rückte für mich allmählich in immer weitere Ferne. Ich begann, mich mit den Niederlanden verbunden zu fühlen, vor allem weil ich nichts anderes kannte,“ sagt sie. Sie begann in Vollzeit als Putzfrau zu arbeiten und trat in die Gewerkschaft und das Migrant Domestic Workers Board ein. „Ohne Papiere leben und nichts für die Gesellschaft tun – das wollte ich nicht,“ sagt sie. 

Der Antrag auf Aufenthaltserlaubnis ihrer Schwester, die psychische Probleme hat, lief noch immer. Mit den Jahren litt auch Natalias psychische Gesundheit. „Ich durfte nicht zusammenbrechen,“ erzählt sie über ihre Kindheit. „Meine Eltern arbeiteten mindestens sechs Tage in der Woche. Zwei kranke Töchter wären für meine Familie zu viel gewesen. Stattdessen versteckte ich mich hinter meinen Schulbüchern.“ 

Sie lebte zwei Jahre ohne Papiere, dann schlug ihre Rechtsanwältin vor, ihr Verfahren mit dem ihrer Schwester zu verknüpfen: ein üblicher Ansatz, wenn ein Geschwisterkind bessere Gründe hat. Also begann sie das Aufenthaltsverfahren von Neuem, ständig in Angst wegen der Verhaftung ihrer Mutter beim ersten Versuch.  „Nun bestand für mich die Gefahr, sofort abgeschoben zu werden,“ sagt sie. Sie hatte eine Panikattacke und suchte einen Psychologen auf, konnte aber aufgrund ihres Einwanderungsstatus nicht behandelt werden.  

In ihrem letzten Berufungsverfahren im Januar 2019 legte Natalia alle Beweise vor, mit denen sie ihre Verbundenheit mit den Niederlanden belegen und zeigen konnte, dass sie Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis hatte. Letztendlich wurde das zerrüttete Verhältnis zu ihren Eltern zu einem entscheidenden Punkt in ihrem Verfahren. Die Behörden konnten nicht mehr behaupten, dass ihre Eltern von ihrem Status profitieren würden. Drei Monate später erhielten Natalia und ihre Schwester ihre Aufenthaltserlaubnis – 17 Jahre nachdem sie in den Niederlanden angekommen waren.

„Jetzt kann ich mein Leben genießen,“ sagt sie. Sie schrieb sich für ein Jurastudium ein und hofft, in drei Jahren Rechtsanwältin zu werden. Mit dem Netzwerk des Migrant Domestic Workers Board arbeitet und demonstriert sie weiterhin zusammen. Sie sagt: „Wenn ich zur Universität gehe, denke ich: das ist genau das, was ich mir so lange gewünscht habe! Aber gleich darauf kommen die traurigen Erinnerungen an all das wieder hoch, was ich dafür verloren habe.“Die Beziehung zu ihren Eltern bleibt angespannt. „Wir arbeiten daran,“ sagt sie stockend. „Es gibt viel zu tun.“ Auf die Frage, wie ihre Eltern sie heute sehen, antwortet sie: „Sie sind stolz auf mich.“ Ich glaube, am meisten stolz sind sie darauf, dass ich nie aufgegeben habe. Dass ich nicht zusammengebrochen bin.“

Dieser Artikel ist Teil der Serie "Europe's Dreamers", in Zusammenarbeit mit Lighthouse Reports und dem Guardian. Lesen Sie die anderen Geschichten.

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