Orbán und unsere Werte

Veröffentlicht am 6 Januar 2012 um 13:28

Es wird schon fast zur Gewohnheit. Die ungarische Regierung von Viktor Orbán ruft in Europa erneut Meinungsstreitigkeiten hervor. Letztes Jahr löste sie Proteste aus, wegen eines Gesetzes, das eine stärkere Kontrolle der Medien durch die Regierung vorsah. Diesmal ist der Grund die neue Verfassung Ungarns, die gleichzeitig mit der Änderung des Zentralbankstatuts durch die Exekutive in Kraft tritt. Nebenher hat diese auch den Wahlablauf reformiert und einem Radiosender der Opposition wurde die Frequenz entzogen.

Wie vor einem Jahr verzichten die europäischen Staatschefs darauf, Stellung zu beziehen, während immer mehr Stimmen Sanktionen gegen das autoritäre Abdriften Viktor Orbáns fordern. Die Europäische Kommission “untersucht” die Situation und nur einige Europaabgeordnete drängen auf eine Reaktion der Europäischen Union.

Doch sollte man Ungarn maßregeln, so wie man es im Jahr 2000 mit Österreich getan hat, als die Rechtsextremen unter Jörg Haider die Regierung antraten? Damals hatten die vierzehn Partner Wiens jeglichen bilateralen Kontakt abgebrochen und aufgehört, österreichische Bewerber auf Posten internationaler Organisationen zu unterstützen. Doch diese Maßnahmen wurde nach neun Monaten wieder aufgehoben, ohne dass Kanzler Wolfgang Schüssel dem Druck nachgegeben hätte. Die Rechtsextremen blieben in Österreich bis 2007 in der Regierung.

Ungarn stellt ein kniffeliges Problem dar. In vielerlei Hinsicht brüskiert das derzeit eingerichtete System die Grundwerte des europäischen Projektes. Ein System, denn anders kann man die Gesamtheit der Maßnahmen nicht nennen, die dazu dienen, die Macht der Fidesz, Orbáns Partei, zu erweitern. Die organisierte Schwächung aller Gegenkräfte, die Nähe zur Jobbik (einer rechtsextremen Partei mit eigener Miliz), oder die Zunahme des Nationalismus unter den magyarischen Minderheiten in anderen EU-Staaten, sind Gründe genug, um Budapest zurechtzuweisen.

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Andererseits sollte man das Achten von Werten und Konformismus nicht mit einem Konsens verwechseln. Man kann viele Elemente des Parteiprogramms von Viktor Orbán in Abrede stellen, verurteilen oder ablehnen, dennoch gehören sie zum Spektrum politischer Meinungen, die man in allen europäischen Ländern findet. Zum Beispiel ist der Wille, eine politische Kontrolle über die Finanzpolitik zu behalten, keine Besonderheit der Fidesz; und die Rolle der Zentralbank steht im Zentrum der Diskussionen zur Eurokrise. Der Bezug auf Gott innerhalb der Verfassung, das Ablehnen gleichgeschlechtlicher Ehen und die Möglichkeit, das Recht auf Abtreibung einzuschränken sind konservative Überzeugungen, die man auch vorneweg in Griechenland, in Frankreich (zum Beispiel) an zweiter Stelle, und in Irland, Malta oder Polen an dritter Stelle findet.

Wenn Europa das Ungarn Orbáns in den Grenzen der europäischen Demokratie halten will, darf es sich weder in der Zielrichtung noch der Methode irren, denn sonst könnte es in zwei gefährliche Prozesse hineingezogen werden. Der erste wäre, große Reden schwingend über Budapest Sanktionen zu verhängen und später alles wieder rückgängig machen zu müssen, so wie es mit Österreich der Fall war, oder dazu gezwungen zu sein, ein ungewisses Ausschlussverfahren anzustreben. Der zweite wäre, ein System einzuführen, das mit zweierlei Maß misst, indem Ungarn für die politische Stellungnahme seiner Regierung sanktioniert wird, obwohl man andere Staaten genauso anprangern könnte. Polen zu Zeiten der Brüder Kaczyński wurde trotz aller reaktionärer Politik nie von der EU geächtet.

Die Tatsache, dass Ungarn eine linguistische und kulturelle Insel inmitten Europas darstellt, verstärkt die gefährliche Dialektik zwischen seinem Hang, sich als belagerte Festung aufzufassen und dem Unverständnis seiner Nachbarn, die nicht alle Einzelheiten der internen Diskussionen kennen. Dies ist ein Grund mehr dafür, dass Europa wachsam, prinzipientreu und gleichzeitig klar und sachbezogen in seinen Handlungen bleiben muss.

Aus dem Französischen von Signe Desbonnets

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