"Zeit für einen Tee." - "Zeit für einen Molotowcocktail."

Paris brennt, London brummt

Während Millionen von Franzosen gegen die Erhöhung des Rentenalters protestieren, ist es in England – einst der Schauplatz heftiger Anti-Thatcher-Demonstrationen – ruhig. Eine Ruhe, die derjenigen ähnelt, mit der Thatchers Nachfahren der Cameron-Regierung die tiefsten Haushaltseinschnitte seit Kriegsende umsetzen.

Veröffentlicht am 21 Oktober 2010 um 14:10
Peter Schrank  | "Zeit für einen Tee." - "Zeit für einen Molotowcocktail."

Am 20. Oktober enthüllte die britische Regierung die Sparpläne zur drastischen Kürzung der Staatsausgaben: Fast eine halbe Million Arbeitsplätze werden gestrichen, und das Rentenalter von 65 auf 66 Jahre erhöht. Jedoch schließt sich die Mehrheit der Briten nicht den benachbarten Franzosen an, die auf die Straße gehen, wo sie ihrem Zorn gegenüber den Sparmaßnahmen in hin und wieder gewaltsamen Demonstrationen Ausdruck verleihen.

Während sich hunderttausende französische Bürger dem Protest gegen die Erhöhung des Rentenalters von 60 auf 62 Jahre anschlossen, stellte sich ein Korrespondent des britischen Channel 4 News die Frage, ob Nicolas Sarkzoys Vorschlag, das legale Mindestrentenalter auf 62 Jahre zu erhöhen, ihn nicht ebenso unbeliebt macht wie die Kopfsteuer (poll tax) Margaret Thatcher 20 Jahre zuvor.

Niederlagen unter Thatcher institutionalisiert

Seine Beobachtungen zeigen, wie unterschiedlich Franzosen und Briten auf die Ankündigung von Sparplänen reagieren. Nachdem die Briten ihre Haushaltskürzungen verkündet hatten, demonstrierten – wie der Guardian berichtet – etwa 3000 Menschen in London. Warum ziehen die Franzosen also diese Woche auf die Straße, während die Briten sich damit zufriedengeben, spöttische Kommentare auf Twitterzu posten, in denen sie sich über den wohlhabenden Finanzminister lustig machen, der seinen Namen Gideon für George eingetauscht hat – um nicht zu vornehm zu klingen?

Auch Tariq Ali stellt den Unterschied fest und weist in seinem Essay im Guardian darauf hin, dass Thatcher es mit ihren radikalen Marktreformen geschafft hat, in Großbritannien politischen Konsens zu schaffen, der bis heute anhält. Während in Frankreich „Barrikaden errichtet werden, man an immer weniger Tankstellen Benzin erhält, von Zug- und Flugpläne nur noch das Gerippe übrig ist und immer neue Proteste hinzukommen, wachsen Verbitterung und Zorn auch in England; aber eben nicht in diesem Ausmaß. Es könnte aber auch anders kommen. Die französische Epidemie könnte sich ausbreiten. An der Spitze aber wird sich nichts ändern. Jung und alt kämpften damals mit vereinten Kräften gegen Thatcher – und verloren. Ihre New Labour-Nachfolger stellten sicher, dass diese Niederlagen institutionalisiert wurden."

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Die Engländer sind Amerikaner

In der letzten Ausgabe der London Review of Books schreibt der von der Thatcher-Ära enttäuschte Denker John Gray, es dürfe niemanden überraschen, dass der Chef der Liberaldemokraten und stellvertretender Regierungschef, Nick Clegg, den harten Einschnitten in die Staatsausgaben zugestimmt hat, die der konservative Finanzminister der Koalitionsregierung vorgeschlagen hat. Im Januar 2008 – erinnert sich Gray – hielt der Liberaldemokrat an der London School of Economics eine Rede, in der er seinen festen Glauben an marktwirtschaftlichen Lösungen bekräftigte. „Die gesamte britische politische Klasse hat die aus den 1980er Jahren stammende Marktideologie der konservativen Partei derart verinnerlicht, dass es nun so aussieht, als entspräche sie nichts als dem gesunden Menschenverstand. Wie Cameron hat auch Clegg nie etwas anderes gekannt.”

Mit anderen Worten: Im Jahr 2010 haben die Briten mit den Amerikanern – die so sehr an die freie Marktwirtschaft glauben, dass sie selbst die von der Regierung geschaffene Krankenversicherung als von Marx und Hitler inspirierten Einfall abstempeln – wohl mehr gemeinsam als mit den Franzosen. Die gehen nämlich noch immer auf die Straße, um ihren Sozialstaat zu verteidigen.

Übersetzung von Julia Heinemann

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