Im Roma-Lager von Berehovo (Westukraine), 2010.

Roma fliehen ins „Reservat“

Von allen in der Ukraine lebenden Minderheiten geht es den Roma zweifellos am schlechtesten. Viele von ihnen mussten für die EM 2012 ihre Lager räumen. Die meisten leben in Baracken am Rande der Großstädte — in völligem Elend. Die Behörden und Mitmenschen zeigen sich gleichgültig. Reportage.

Veröffentlicht am 5 Juli 2012 um 11:46
Im Roma-Lager von Berehovo (Westukraine), 2010.

Im transkarpatischen Berehove, am äußersten Rand der Europäischen Union an der ungarischen Grenze leben Hunderte von Roma hinter einer Betonmauer. In Holz- und Lehmbaracken und unbeschreiblichem Elend.

Hier hausen die Großfamilien in entsetzlich stinkenden Zimmern. Die Wände sind voller Schimmel und durchsät mit Löchern, die notdürftig mit Decken und Karton gestopft wurden. Auch die Decken sind löchrig, der Boden ist aus Lehm, und Plastikplatten dienen als Fensterscheiben. Eine Gemeinschaft, so sagen die ukrainischen Menschrechtsorganisationen, die von allen Seiten nur als Ärgernis empfunden wird.

Kurz vor Beginn der EM 2012 brannte ein Roma-Lager im Kiewer Arbeiterviertel Bereznaky ab. Wahrscheinlich, weil die Bewohner ihre Baracken zu nahe an der Eisenbahnstrecke gebaut hatten, welche Tausende von Fußballfans benutzen sollten.

Doch auch den in geschlossenen Ghettos, wo die ukrainischen Roma „unter sich“ bleiben, ist das Leben schwierig. Die Roma von Berehove schlafen in Etagenbetten auf Heu, Karton und Lumpen. Der Hof ist mit Müll übersät, ein unglaubliches Durcheinander. Eine ekelige Brühe kocht in großen Töpfen über Lagerfeuern.

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Streunende Hunde schnuppern an den auf dem Boden verstreuten Kartoffelfladen. Die Wäsche wird in schmutzigem Wasser gewaschen. „Aber dafür lässt man uns hier immerhin in Ruhe“, sagen die Bewohner.

Haare färben gegen Flöhe

Die einzigen Zeichen von Zivilisation sind die Handys und Satellitenschüsseln auf den kaputten Dächern. „Wir kochen mit stinkendem Salzwasser. Alle Kinder haben Durchfall. Wir beten, dass man uns wenigstens eine Wasserpumpe anschließt“, sagt Arnaka, die mit ihren acht Kindern im „Camp“ von Berehove lebt. Erwachsene wie Kinder leiden an Ruhr und Tuberkulose.

Die Baracken sind voller Ratten. Die Menschen versuchen sie mit halbverhungerten Katzen zu bekämpfen, die sie oftmals an der Leine führen. Alle, die Jungen wie die Alten, versuchen ihre Flöhe loszuwerden, indem sie sich ihre Haare knallrot färben.

Angaben von Roma-Organisationen zufolge leben rund 400.000 Roma in der Ukraine. Doch für Rudolf Papp, Stadtrat von Berehove, ist es schon fast unmöglich, über die genaue Anzahl der Bewohner dieses kleinen Orts Auskunft zu geben. Ständig kommen und gehen die Familien, auf der Suche nach einem besseren Leben.

Die meisten leben ausschließlich von Sozialhilfen, wie Geburtenzulage, Kindergeld oder Renten für die ältesten Familienmitglieder. Doch viele Roma in der Ukraine haben keine Ausweispapiere und können deshalb auch keine Sozialhilfe beantragen.

Die Roma klagen nicht über dies „eingemauerte“ Leben. Für Papp ist die Tatsache, dass das Lager von einer Mauer umringt ist, eine gute Sache, sowohl für die Roma-Gemeinschaft als für die lokale Bevölkerung. Niemand zwingt die Roma dort zu bleiben, sie können sich frei bewegen.

„Wir haben dieselben Rechte wie die Ukrainer oder Ungarn. Unsere Kinder dürfen zur Schule gehen und unsere Frauen in den Krankenhäusern gebären“, sagt Papp. Er gibt allerdings zu, dass nur wenige von diesen Vorteilen Gebrauch machen.

Für ihn ist das Hauptproblem, dass die Männer aufgrund ihres ethnischen Hintergrunds keine Arbeit finden können. Also „arbeiten“ die Kinder und alten Frauen. Sie betteln auf den Wochenmärkten und den Bahnhöfen, um ihre Familien zu ernähren. Ein Teil der Roma lebt vom Drogenhandel. In deren Camps gibt es Luxus im Überfluss. Die Menschen leben in Häusern mit schönen Dachzinnen und fahren Limousinen.

„Die Roma sind ein vergessenes Volk.“

Für Vitali Kulik vom Forschungszentrum für die Zivilgesellschaft ist die soziale Integration der Roma ein großes Problem. „Zu Zeiten der Sowjetunion versuchten die Behörden mit den sogenannten „Baronen“ Verbindung aufzunehmen, um durchgreifen zu können. Doch hat dies informelle Verfahren versagt. Ein Leerraum ist entstanden, der zu einer verstärkten Kriminalisierung dieser Bevölkerungsgruppe geführt hat“, erklärt er.

Menschenrechtsaktivisten sehen in den Roma der Ukraine eine Gemeinschaft, die von allen aufgegeben wurde und um die sich keiner kümmern will. Wie es Volodimir Batschajew vom ukrainischen Observatorium für Menschenrechte laut Radio Liberty sagte: „Die Roma sind ein vergessenes Volk. Die Regierung will sich nicht um sie kümmern, weil man die nötigen Kosten als viel zu hoch ansieht. Sie gelten als marginale ethnische Randgruppe.“

Zu Zeiten der Sowjetunion wollten die Behörden die Roma zwangsintegrieren. Nomadentum war verboten, es gab Schulpflicht für Kinder und die Männer mussten arbeiten, vor allem in der Landwirtschaft.

Die Roma-Kultur wurde gefördert. Der Film des moldawischen Regisseurs Emil Loteanu „Wenn die Zigeuner ziehen“, der eben in diesen Dörfern Transkarpatiens gedreht wurde, avancierte zum Kultfilm.

Doch von der Kinoromantik ist in den Roma-Lagern schon seit langem nichts mehr zu spüren. Kriminalität und Elend herrschen hier heute. Wie in anderen Ländern Europas auch, ächtet die ukrainische Gesellschaft die Roma. Nur den vereinzelten Musikgruppen, die mit traditioneller Zigeunermusik in Restaurants aufspielen, begegnet man heute mit Sympathie. (js)

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