Ruhig bleiben und weitermachen

Muss ein unabhängiges Schottland sich um die EU-Mitgliedschaft bewerben? Sollen Mitglieder militärischen Beistand gegen Unabhängigkeitsbewegungen erhalten? Von den Aufreger-Fragen der Separatismus-Welle braucht sich niemand ins Bockshorn jagen zu lassen.

Veröffentlicht am 9 Januar 2013 um 15:58

Trotz gegenteiliger Behauptungen ist die EU im Wesentlichen eine Union aus Nationalstaaten. Und das wird sie bleiben, bis der Acquis communautaire [der gemeinschaftliche Besitzstand] einer radikalen Veränderungskur unterzogen wird, was zumindest im Augenblick nicht zur Debatte steht.

Dafür gibt es keinen besseren Beweis als die Tatsache, dass das EU-Parlament, also die einzige Institution, deren Mitglieder direkt von den Bürgern gewählt werden, die schwächste Einrichtung von allen ist. Trotz der Aufwertung, die sie im Vertrag von Lissabon erfahren hat. Als die Finanz- und die Schuldenkrise die EU in ihren Grundfesten bedrohte, wurde der Entscheidungsfindungsprozess umgehend von den gemeinschaftlichen Institutionen auf nationale Stellen verlagert.

Jedoch kann die EU, egal wie gern einige ihrer Interessenvertreter das auch hätten, die Geschehnisse in Flandern, Katalonien oder Schottland nicht einfach aus sicherer Entfernung beobachten, zumal sie die Integrität ihrer Nationalstaaten gefährden. Das jüngste Wiederaufleben separatistischer Bewegungen in Folge der Krise wird Brüssel vor eine Vielzahl von Herausforderungen stellen.

Wenn der Konkretfall ruft

Zunächst einmal haben die nach Unabhängigkeit strebenden Regionen Europas bereits begonnen, unangenehme Fragen zu stellen. Momentan sind diese zwar noch implizit, schon bald aber werden sie explizit: Wird Schottland sich noch einmal um die EU-Mitgliedschaft bewerben müssen, wenn seine Bürger beim Referendum 2014 für die Unabhängigkeit stimmen? Wird man den Katalanen die Unionsbürgerschaft entziehen, wenn sie sich für eine Loslösung von Spanien entscheiden? Wie wird die EU reagieren, wenn eines ihrer Mitglieder Sicherheitstruppen beantragt, weil eine Unabhängigkeitsbewegung seine „nationale Sicherheit bedroht“?

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Nach der gängigen juristischen Meinung soll jeder neue Staat, der in Europa entsteht, den ganzen Beitrittsprozess durchlaufen und alle existenten Mitglieder der Union einstimmig für seine Aufnahme in den Club stimmen. Laut dem Vertrag von Lissabon „ergänzt“ die Unionsbürgerschaft die Staatsbürgerschaft eines Mitgliedslandes.

Selbst wenn die EU einen einzigen separatistischen Vorfall politisch und rechtlich bewältigen könnte (sagen wir: Schottland), ist und bleibt da noch der potentielle Dominoeffekt, der auch im Baskenland, Katalonien, Südtirol, Flandern, im französischen Elsass und auf Korsika, sowie im von Polen bewohnten Teil Litauens, im von Friesen besiedelten Teil der Niederlande und im von Muslimen bevölkerten Nordosten Griechenlands zu vergleichbaren Forderungen führen könnte, die die Einheit der Union erschüttern würden.

Angst vor Separatismus lenkt Politik

Längst lenkt die Angst vor separatistischen Bewegungen die Politik der EU. Beispielsweise weigern sich fünf von 27 EU-Staaten (Zypern, Griechenland, Rumänien, die Slowakei und Spanien), Kosovo anzuerkennen, weil sie befürchten, dadurch separatistische Bewegungen in ihren Ländern zu ermutigen.

In Zypern ist die Lage ganz besonders kompliziert, weil es das einzige EU-Mitglied ist, das laut der UN teilweise unter (türkischer) Fremdherrschaft steht. Würde die EU die Sezession einer europäischen Region billigen, würden die zyprischen Behörden dies als grünes Licht für eine Spaltung der Insel de jure werten.

Auch in weniger komplizierten Fällen, wie in Großbritannien, könnte ein positiver Umgang der EU mit der Unabhängigkeit Schottlands die Beziehungen zwischen London und Brüssel nur noch mehr strapazieren.

Wie sollte die EU also reagieren? Vor allem sollte sie einen kühlen Kopf bewahren.

Separatistische Bewegungen können sich auch wieder umkehren. Beispielsweise zeigen Meinungsumfragen, dass eine klare Mehrheit in Schottland dafür ist, Teil des Vereinigten Königreichs zu bleiben. Und in Spanien zeigen die Umfragen zwar, dass die Katalanen ein Referendum wollen, aber keiner kann vorhersagen, ob sie dabei eindeutig für oder gegen die Unabhängigkeit stimmen werden.

In Flandern scheinen sich die Nationalisten eher mit einer Föderation zufriedenzugeben, als sich gänzlich abspalten zu wollen. Zumal die Frage, wer dann wohl Brüssel erhält, schwierig genug ist, um Belgien zusammenzuhalten.

Auch Separatismus ist umkehrbar

Was den Rechtsstatus der abtrünnigen Regionen angeht, sollte die EU einen klaren Standpunkt vertreten. Schließlich haben Menschen, die nach Unabhängigkeit streben, das Recht darauf, sachlich fundierte Entscheidungen zu treffen. Und in Schottland und Katalonien hat sich die Gefahr, die EU verlassen zu müssen, als wirksames Abschreckungsmittel gegen separatistische Bestrebungen erwiesen.

In den meisten separatistischen Bewegungen, ist das Hauptargument folgendes: Die Menschen haben es satt, entweder ihre Zentralregierung oder ärmere Regionen zu „subventionieren“. Folglich könnte ein effizienterer Gebrauch der EU-Strukturfonds zur Überlebensfrage einiger Mitgliedsstaaten werden. Indem man den ärmeren Regionen nämlich unter die Arme greift, finden sie auch wieder den Anschluss.

Es ist ziemlich sicher, dass der Prozess der Vertragsrevision gleich nach der Europawahl 2014 eingeleitet werden wird. Bisher haben sich Schreckensszenarien von einem Auseinanderbrechen der Eurozone oder der EU als völlig falsch erwiesen.

Die Krise hat den europäischen Einigungsprozess in fast jeder Hinsicht beschleunigt: Steuerlich, finanziell und politisch. Angesichts der Tatsache, dass die EU Integration immer größer schreibt, sollten auch ihre Regionen viel stärker an Entscheidungen beteiligt werden.

Der Fall Deutschlands – dem erfolgreichsten Bundesstaat der EU – zeigt, dass sich starke Regionalregierung und Föderalismus nicht ausschließen.

Ganz im Gegenteil: Die regionale Selbstverwaltung verleiht der föderalen Struktur in Deutschland erst ihre demokratische Legitimität.

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