Reportage INVASION DER UKRAINE | GEFLÜCHTETE IN RUMÄNIEN
Rachis, Transsilvanien, 25. März. Tatiana trainiert mit ihrem Pferd. | Foto: Andrei Popoviciu

In Rumänien fällt die Solidarität mit den Geflüchteten aus der Ukraine der Zivilgesellschaft zu

Seitdem die Grenze zur Ukraine auch eine Trennlinie zwischen Bomben und Frieden ist, haben mehr als 770.000 vor dem Krieg Flüchtende Rumänien als erste Anlaufstelle gewählt. Etwa 80.000 von ihnen haben beschlossen, dort zu bleiben. Dieser Artikel ist Teil einer Serie über die Solidarität mit Kriegsgeflüchteten aus der Ukraine.

Veröffentlicht am 28 April 2022 um 12:41
Rachis, Transsilvanien, 25. März. Tatiana trainiert mit ihrem Pferd. | Foto: Andrei Popoviciu

Viele ukrainische Geflüchtete wussten nicht, was sie von ihrem Nachbarland erwarten sollten. In der Geschichte unserer beiden Länder findet man einige Gemeinsamkeiten, aber in der jüngsten Vergangenheit haben wir nicht viel übereinander gelesen. Rund 80.000 Geflüchtete von den mehr als 770.000, die in Rumänien Schutz suchten, fanden in den Häusern der Rumänen offene Türen. Trotzdem wäre etwas mehr Unterstützung von offizieller Seite willkommen. 

Weniger als 5.000 Ukrainer*innen, die in den letzten beiden Monaten über die Grenze kamen, haben laut Angaben der rumänischen Generalinspektion für Immigration einen offiziellen Geflüchtetenstatus. Viele wollen diesen nicht beantragen. „Denken Sie nur nicht, dass die Ukrainer*innen mehr Vertrauen in die Behörden haben als wir,“ erklärt Elena Calistru, Vorsitzende der Nichtregierungsorganisation Funky Citizens, die an zivilgesellschaftlichen Initiativen in Rumänien beteiligt ist und derzeit humanitäre Hilfstransporte für die Ukraine organisiert.

Palanca, 3. März 2022. Flüchtende aus der Ukraine an der Grenze zu Moldawien. | Foto: Andrei Popoviciu 

Ohne sich auf Tatsachen stützen zu können, ist es nicht leicht, Vertrauen aufzubauen – und um tatsächliche Unterstützung von offizieller Seite „steht es wirklich schlecht. Der Unterschied zu anderen Geflüchtetenkrisen ist, dass die meisten ukrainischen Geflüchteten in Privatunterkünften wohnen. Sie sind sehr schwer zu erreichen, selbst für die Behörden,“ sagt Elena Calistru. 

Die rumänische Regierung versprach im letzten Monat, alle Geflüchteten finanziell zu unterstützen – durch lokale Behörden, die Anfragen von Gastgeber*innen erhalten. Bisher haben jedoch weder Gastgeber*innen noch Geflüchtete jemals Zahlungen bekommen. Für die Auszahlung der 20 RON für Lebensmittel und 50 RON für Unterkunft täglich ist die Generalinspektion für Notsituationen zuständig. „Nächste Woche kommt das Geld,“ sagt der Pressesprecher der Generalinspektion in Cluj-Napoca, der teuersten Stadt Rumäniens. Die große Unsicherheit, die auf beiden Seiten herrscht, tut der Solidarität keinen Abbruch. 

Cluj-Napoca, 23. März 2022. Ion und Mihaela. | Foto: Anneleen Ophoff

An diesem schönen Frühlingsabend hat das Warten in der Leitstelle der „Medical International Rescue Association“ in Cluj-Napoca wieder begonnen. Cluj-Napoca ist die zweitgrößte Stadt Rumäniens, und hier sind in den letzten beiden Monaten Tausende von Geflüchteten durchgereist. Der Verein – normalerweise ein privates Krankentransportunternehmen – bietet eine Hotline für Geflüchtete an. Heute Abend sitzen Ion und Mihaela am Telefon. Ion absolviert in der Republik Moldau ein Ingenieurstudium und ist für das Dolmetschen zuständig, Mihaela ist Sanitäterin.

Mihaela kommen die Tränen, als sie ein Gespräch mit einer Familie hört, die noch am selben Abend in Cluj-Napoca eintreffen wird. „Ein Ehepaar will eine alte Dame in Rumänien zurücklassen und ohne sie nach Frankreich weiterreisen. Sie sagen, dass sie zu krank sei, um weiter zu reisen,“ sagt Mihaela. Die Dometscher*innen gehören zu den Personen, die von den Gesprächen zwischen Geflüchteten und freiwilligen Helfern am stärksten berührt sind, denn sie bekommen die meisten Geschichten mit. „Ich erinnere mich an eine Mutter mit zwei Kindern, die nur zweihundert Dollar bei sich hatte. Sie hatte nicht die geringste Idee, wo sie hin sollte. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte,“ berichtet Ion. 


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Andrei Bonțidean, der Leiter des Vereins, war selbst zehn Jahre lang Sanitäter. Als wir ihn in seinem Büro treffen, wirkt er müde. Wir sprechen über seine Motivation, nach zwei Jahren ohne Pause von der Arbeit immer noch weiter zu helfen – während der Pandemie war er jeden Tag im Einsatz. „Das Beste an dieser Erfahrung ist meiner Meinung nach, dass wir wieder Gefühle haben. Als medizinisches Personal ist unser Problem, dass wir nichts mehr fühlen. Diese Aufgabe hat uns wieder zu Menschen gemacht,“ erklärt Andrei Bonțidean.

Victoria vermittelt am Bahnhof als Dolmetscherin zwischen Geflüchteten und Freiwilligen. Sie kommt aus Transnistrien, einer moldauischen Splitterregion, und studiert jetzt in Rumänien Klavier. In den ersten Wochen des Krieges fühlte sie sich machtlos. Ein Teil ihrer entfernten Verwandten lebt in der Ukraine, in der Nähe von Kyiv. Um ihr Gefühl der Ohnmacht loszuwerden, fuhr sie zur Grenze, wo sie die Verzweiflung Tausender Geflüchteter erlebte. Hunderte Rumänen waren zur Stelle, um zu helfen, und sie brauchten Victoria, um zu verstehen, was sie tun konnten.

Cluj-Napoca, 24. März. Victoria. | Foto: Julia Rignot

An einem Sonntagmorgen fuhr Victoria zu ihrer Universität zurück und versuchte zu schlafen. Aber ihr Telefon begann zu klingeln – Geflüchtete, die sie an der Grenze getroffen hatte, brauchten in der Stadt Hilfe. Seitdem zählt sie zu den freiwilligen Helfern am Bahnhof Cluj-Napoca – aber nicht öfter als dreimal pro Woche. „Ich fürchte, dass ich das aufgrund der emotionalen Belastung nicht häufiger machen kann. Die Menschen erzählen mir ihre Lebensgeschichte und beginnen zu weinen,“ so Victoria. 

Rumänien und die Ukraine haben vieles gemeinsam – die beiden Gesellschaften sind durch traditionelle Kleidung und Küche sowie einen Teil ihrer Geschichte verbunden. Eines unterscheidet sich jedoch stark: ihre Sprachen. Anfang März 2022 entwickelte „The Grammar School,“ ein Bildungsprojekt mit dem Ziel, Studenten und jungen Erwachsenen in Rumänien die Grammatik leichter zugänglich zu machen, eine Idee. Die Gründerin des Projekts, Corina Popa, beschloss, kostenlos Ukrainer*innen zu unterrichten, die Rumänisch lernen wollen. Wie viele Menschen interessiert sein würden wusste sie nicht. Als sich 700 Teilnehmer zur ersten Unterrichtsstunde auf Zoom anmelden wollten, war sie schockiert. „In einem Fall saßen zehn Personen um ein einziges Handy herum – Kinder, Senioren, junge Erwachsene – alle hörten aufmerksam zu,“ sagt Corina. 

Am dritten Samstag, an dem der Rumänischunterricht stattfindet, sind die meisten Teilnehmer*innen junge Frauen. In der Lektion geht es um zwei Fragen auf Rumänisch: „Wo bist du jetzt?“ und „Wo kommst du her?“ Die Antworten sind kurz, aber sehr vielsagend. Zwei Teilnehmerinnen sind in Chișinău in der Republik Moldau, in der auch die rumänische Sprache gesprochen wird. Die anderen befinden sich in Städten in ganz Rumänien. „Sie leben im Sektor 3, wie ich,“ sagt die Rumänischlehrerin zu einer Teilnehmerin, die jetzt in Bukarest zuhause ist. 

Ein Lachen unterbricht die Nüchternheit des Unterrichts, als die Lehrerin erklärt, wie man auf Rumänisch ausdrücken kann, wie man sich fühlt: foarte bine (sehr gut), bine (gut); așa și-așa (geht so). Așa și-așa löst das Lachen aus. Immer mehr Stimmen wiederholen die Wörter im Zoom-Chor, und das Lachen wird ansteckend. Niemand hat das Bedürfnis, zu erklären warum, jeder versteht es. Diese Antwort würden so viele geben, mit schleppender, leiser Stimme, um nicht zu sagen, wie sie sich wirklich fühlen: schrecklich.

Die Geflüchteten aus der Ukraine sind in Rumänien überwiegend in der Hauptstadt, in Großstädten und in Grenznähe untergebracht. Die meisten Menschen wollen nicht unbedingt eine Unterkunft auf dem Land, da sie eine gewisse Unabhängigkeit anstreben. Aber es gibt Ausnahmen. 

Vor der Kulisse der sanften Hügel Transsilvaniens fällt mildes Sonnenlicht auf Tatiana, während ein Pferd um sie herum auf dem Zirkel trabt. Der Wind lässt ihren regenbogenfarbenen Schal flattern, unter dem eine übergroße Militärjacke zu sehen ist. Auf dem Ärmel haftet mit Klettband die ukrainische Flagge. „Mir fehlt die Ukraine,“ sagt sie. Tatiana und ihre Freundin Olga legten von Odessa aus einen viertägigen Marsch mit fünf Pferden und einem Pony zurück und machten in der Republik Moldau halt, weil eines der Tiere krank wurde.

„Natürlich möchten wir zurück nach Hause.“ Die beiden Frauen hatten einen Reitstall in Odessa, sahen sich jedoch gezwungen, auf dem Land in Rumänien Schutz vor den russischen Bomben zu suchen.

Rachis, Transsilvanien, 25. März. Olga. | Foto: Andrei Popoviciu

Sie haben in einem Dorf im Zentrum Rumäniens Zuflucht gefunden. Iulian Docea, der seit Jahren unermüdlich am Wiederaufbau von Rachiș, dem verlassenen Dorf seiner Großeltern, arbeitet, bot ihnen dort Unterkunft an. Seit 2008 renoviert der Unternehmer aus Cluj in dem Dorf 14 Häuser. Er hatte nicht die Absicht, dort eine Oase der Sicherheit für traumatisierte Geflüchtete zu schaffen, aber genau das ist das Dorf inzwischen. 

„Unsere Hilfe kommt von der Gemeinschaft, nicht von den Institutionen,“ sagt Daniel David, Professor für Psychologie und Rektor der Babeș-Bolyai Universität in Cluj-Napoca. „Wir arbeiten mit einer enthusiastischen Einstellung und nutzen vor allem unsere Beziehungen.“ 

„Wir wissen, dass Organisation und Disziplin nicht zu den Stärken unserer Gesellschaft oder unserer Institutionen zählen,“ räumt David ein. „Rumänien hat nie starke Institutionen gehabt. Deshalb engagieren sich die Menschen. Aber ohne jegliche Organisation wissen sie nicht, wann sie Abstand nehmen und jemand anderen weitermachen lassen müssen. So kommt es zu Burnout, Stress und Frustration.“

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