Opinion Russland, Ukraine und Europa

Die russische Konterrevolution steht vor den Toren Europas

Nach einem Jahr kompromisslosen Krieges durch Russland ist klar, was der ukrainische Widerstand dem übrigen postsowjetischen Osteuropa erspart hat: Gulags, Entführungen, Deportationen, Folterkammern und Massengräber. Für den ukrainischen Kunstkurator und politischen Aktivisten Vasyl Cherepanyn ist der Krieg Russlands gegen die Ukraine ein Militärputsch gegen dreißig Jahre europäischer Geschichte.

Veröffentlicht am 27 April 2023 um 11:43
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Als der russische Präsident Wladimir Putin in seiner Fernsehansprache, mit der er den Beginn der groß angelegten Invasion der Ukrainebegründete, andere Länder warnte, sich nicht einzumischen, da sie sonst mit „Konsequenzen rechnen müssten, die es in der Geschichte noch nie gegeben hat“, erstarrten viele führende Politiker im Westen nicht nur vor Angst, sondern atmeten auch erleichtert auf – endlich hatten sie einen legitimen Grund, sich nicht einzumischen und sich hinter einer atomaren Bedrohung zu verstecken.

Nach einem Jahr kompromisslosen Krieges durch Russland ist auch für Unbeteiligte klar geworden, wovor die Ukraine Osteuropa (vor allem den postsowjetischen Teil) bisher gerettet hat: vor Filtrationslagern, Entführungen, Deportationen, Folterkammern, Massengräbern und anderen Gräueltaten, die mit angeblichen Annexionen einhergehen.

Ohne den ukrainischen militärischen Widerstand würden heute nicht nur die Ukraine selbst, sondern auch weder die Europäische Union noch die NATO in ihrer heutigen Form existieren, und der Westen wäre nicht mit der Anzahl der zu liefernden Panzer beschäftigt, sondern damit, über die Beziehungen zur Volksrepublik Chișinău, Volksrepublik Narva und Volksrepublik Białystok nachzudenken ...


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Dieser Krieg wird oft als Angriffskrieg, als Zermürbungskrieg, als Kontinentalkrieg, manchmal auch als totaler Krieg bezeichnet – das alles ist richtig. Der russische Krieg gegen die Ukraine zeichnet sich jedoch durch eine Besonderheit aus, die gewöhnlich übersehen wird: Im Gegensatz zu den meisten militärischen Konflikten der letzten Zeit handelt es sich hier nicht einfach um einen Krieg zwischen zwei Ländern, zwischen zwei Armeen oder zwischen einer Armee und Aufständischen. Es ist vielmehr ein Krieg des Militärs eines Landes mit Unterstützung und direkter Beteiligung seiner Bevölkerung gegen das Volk eines anderen Landes, das seines Existenzrechts beraubt wurde.

Das völkermörderische, selbstverneinende Argument des Kremls lautet: Ihr existiert nicht, aber da ihr doch existiert und nicht existieren solltet, müsst ihr vernichtet werden. Eigentlich ist das keine unbekannte Referenz für Europa – ganz im Gegenteil, aus historischer Sicht ist der Hintergrund gut erkennbar. Da Russlands Krieg im Grunde darauf abzielt, die europäische politische und institutionelle Ordnung zu stören, die ihrerseits eines der Hauptergebnisse der Niederlage des Nazismus ist, ist es kein Zufall, dass hier einige der entsprechenden Narrative und Praktiken des Zweiten Weltkriegs wiederbelebt und heraufbeschworen werden.

Die Maidan-Revolution war die letzte erfolgreiche europäische Revolution, und die ideologische Natur des aktuellen Kriegs Russlands gegen die Ukraine und Europa muss als grundlegend konterrevolutionär betrachtet werden. Er basiert auf geschichtlichen Ressentiments, rückschrittlicher Frustration und politischer Reaktion. Unabhängig von der sozialen Sphäre oder der rhetorischen Verpackung dienen alle Unternehmungen des Kremls einem Hauptzweck – der Verhinderung eines Regimewechsels.

Revolution ist seit jeher die größte Angst von Putins Regime. Putin war so sehr von dem ukrainischen Maidan besessen, dass er sein ganzes Land in einen Anti-Maidan verwandelte, um dessen Nähe mit allen Mitteln zu beseitigen – auch wenn es sich nur um eine Illusion handelte.

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