Tatsächlich ein alter Kontinent

Ratlos gegenüber der Schuldenkrise, in Libyen und Afghanistan ins Wanken geraten: Europa wird nicht nur schwächer, sondern es wird auch zum Problem für die Vereinigten Staaten. So lautet das harte Urteil der New York Times.

Veröffentlicht am 29 Juni 2011 um 12:02

Es bestehen ernsthafte Zweifel am Fortbestand der gemeinsamen EU-Währung, des länderübergreifenden freien Personenverkehrs und der kollektiven transatlantischen Sicherheit. Europas Spitzenpolitiker verschließen entweder die Augen vor der Wahrheit oder sie sind vollständig gelähmt.

Wie kann eine europäische Führung zulassen, dass diese tragenden Säulen des europäischen Wohlergehens aufs Spiel gesetzt werden? Das Problem ist: Es gibt keine europäische Führung, sondern nur eine deutsche Kanzlerin, einen französischen Staatspräsidenten, einen italienischen Ministerpräsidenten und andere, die kontinentweite Anschauungen bekunden, aber nie sehr viel weiter sehen als ihre lokalpolitischen Interessen.

Europas Zusammenfall ist auch ein Problem für die Amerikaner. Ein Auseinanderbrechen des Euro könnte die ganze Weltwirtschaft mit herunterziehen. Ein Einsturz der NATO würde bedeuten, dass die Vereinigten Staaten in Sicherheitsbelangen noch mehr Verantwortung tragen müssten. Mehr als ein Jahr nach Beginn der Schuldenkrise sind viele europäische Regierungschefs immer noch nicht in der Lage, die nötigen harten Entscheidungen zu treffen.

Politiker werden ihren Wählern die Wahrheit sagen müssen

Der konstruktive Ausweg wäre die Umschuldung überhöhter Kredite, die Sanierung der betroffenen Banken und die nötige Entspannung der Sparpolitik, damit die verschuldeten Länder – Griechenland, Irland und Portugal sind am meisten gefährdet – wieder zur Zahlungsfähigkeit gelangen können. Kein Land kann alleine eine derartige Lösung finanzieren, doch Europa als Ganzes könnte es.

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In einem begrüßenswerten Zugeständnis an die Realität kündigte der französische Präsident Nicolas Sarkozy an, die französischen Banken seien nun darauf vorbereitet, die Laufzeiten mancher griechischer Anleihen „freiwillig“ zu verlängern. Das könnte zwar helfen, aber nur wenn ganz Europa nachzieht – die deutschen Banken sind noch nicht an Bord – und dann seinen Druck auf Athen und noch mehr Sparmaßnahmen verringert. Damit die europäischen Wähler da mitmachen, werden die Politiker die Wahrheit sagen müssen. Die Alternative wäre, die Eurozone auseinanderbrechen und den europaweiten Handel darunter leider zu lassen.

Die Öffnung der meisten europäischen Binnengrenzen in den letzten 20 Jahren war ein Segen für die Wirtschaft. Doch fast jedes Land erlebte zugleich auch einen alarmierenden Anstieg der einwanderungsfeindlichen politischen Parteien. Die Wirtschaftskrise und das Eintreffen von Zehntausenden von tunesischen und libyschen Flüchtlingen haben die Fremdenfeindlichkeit in neue Höhen getrieben. Frankreich, Italien und Dänemark bemühten sich um einen selektiven Ausstieg aus dem historischen Schengen-Abkommen mit seinen reisepassfreien Grenzen. Das Flüchtlingsproblem ist ebenfalls zu groß, als dass ein Land allein damit fertig werden könnte. Auch das erfordert eine echte europäische Führung.

Europas unfähige Verteidigung

Europas frühe Reaktion auf die Gewalttaten von Oberst Muammar Gaddafi in Libyen war vielversprechend. Frankreich verlangte eindringlich einen internationalen Eingriff und die NATO-Verbündeten waren einverstanden, nach der ersten Runde amerikanischer Luftangriffe die Führung zu übernehmen.

Doch der Preis für die jahrelangen militärischen Unterinvestitionen der meisten europäischen Mitgliedsstaaten machte sich schnell bemerkbar, als sie sich um Bomben und anderes Grundausstattungsmaterial an Washington wenden mussten. Die kollektive Verteidigung setzt immer voraus, dass Amerika Europa gegen eine Supermacht wie die Sowjetunion zu Hilfe kommen würde. Doch angesichts der Unfähigkeit der europäischen NATO, eine geringfügigere Herausforderung wie Libyen zu bewältigen, sollte jedem Verteidigungsministerium in Europa angst und bange werden.

Die Amerikaner sind kriegsmüde – und die Furcht vor einer Schwächung der NATO schreckt die Politiker nicht mehr ab, wie der Streit über den Libyeneinsatz verdeutlicht hat. Wir wissen nicht, wie lange die Wähler hier ein Bündnis unterstützen werden, in dem die Vereinigten Staaten 75 Prozent der militärischen Ausgaben und einen noch viel höheren Prozentsatz der Kampfhandlungen auf sich nehmen.

Europas führende Politiker müssen schnell eine eigene, weiter gefasste Sichtweise finden, oder die Europäer – und ihre amerikanischen Verbündeten – könnten einen enormen Preis zahlen.

Aus dem Englischen von Patricia Lux-Martel

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