Transatlantischer Populismus

Die neopopulistische Tea-Party-Bewegung aus den USA hat jetzt auch in Europa Fuß gefasst. Die beiden Strömungen haben dabei nicht dieselbe Geschichte, schreibt der Boston-Korrespondent von De Morgen. Das Resultat ist aber das gleiche: die Regierungen steuern auf die Lähmung zu.

Veröffentlicht am 6 Mai 2011 um 15:12

Kürzlich war in den amerikanischen Medien von den „europäischen Tea Parties“ die Rede. Diese Bewegung soll auf dem alten Kontinent angeblich durch den Wahlsieg der „wahren Finnen“ in Finnland und die – derzeit – guten Umfrageergebnisse des Front National unter Führung von Marine Le Pen in Frankreich bekannt geworden sein.

Man sagt, dass sich die Empfindungen, die hinter den Tea Parties stecken, nach Europa exportieren. Wenn es in Washington regnet, nieselt es in Helsinki, Paris und Flandern. Und wo sich die amerikanische Tea Party gegen Washington auflehnt, protestiert die europäische gegen Brüssel.

Der Begriff „Europäische Tea Party“ macht keinen Sinn

Eines ist klar: abgesehen von wenigen Einzelfällen, die auf Facebook vertreten sind, macht der Begriff „Europäische Tea Party“ absolut keinen Sinn. Es verhält sich genau umgekehrt. Mit der Tea Party machen die Amerikaner Gefühlen Luft, die in Europa bereits seit Jahren von Parteien wie Vlaams Blok, jetzt Vlaams Belang [VB, rechtsextremistische flämische nationalistische Partei] in Flandern, vom Front National in Frankreich, der Liste Pim Fortuyn [2008 aufgelöst] in den Niederlanden oder der Lega Nord in Italien ausgedrückt werden. [VB-Chef] Philip Dewinter hielt seine Reden bereits, als [die erste Dame der amerikanischen Tea Parties] Sarah Palin noch ihrem Mann in seinem Fischereibetrieb in Wasilla in Alaska half. Was bei uns geschieht, ist also eindeutig auf unserem eigenen Mist gewachsen.

Darüber hinaus ist anzumerken, dass die Bewegung, die man als „europäische Tea Party“ bezeichnet, sich um die Wahrung der sozialen Errungenschaften bemüht, während die amerikanische Variante dagegen eine starke Abneigung gegen den Wohlfahrtsstaat nach europäischem Modell hegt. [US-Präsident Barack] Obama kann im Hinblick auf Sozialleistungen nichts unternehmen, ohne hören zu müssen, der Kommunismus sei auf dem Vormarsch. Die Unterschiede sind also zahlreich, die Ursachen für den Groll jedoch sehr ähnlich.

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Die Existenzangst der weißen Bürger

Im Grunde geht es immer um die Existenzangst der weißen Arbeiter und der Mittelklasse. Beiderseits des Atlantiks fürchtet der weiße Bürger, sein Land könnte Opfer einer Geiselnahme und er selbst von Immigranten verdrängt werden, so dass er dem Untergang der Welt, in der er so lange bequem gelebt hat, beiwohnen müsste. Ebenfalls beiderseits des Atlantiks existiert eine gewisse Abneigung arroganter Eliten aller Art, die verachtungsvoll auf die „kleinen Leute“ niederblicken und ihre eigenen nationalen Eigenschaften gering schätzen.

Im Übrigen führt die populistische Rechte beider Kontinente zahlreiche Telefongespräche. Noch vor kurzem war Tim Phillips, Präsident von Americans for Prosperity, eine der republikanischen Lobbys, die hinter den Tea Parties stecken, in Norwegen, um der rechtsextremistischen Fortschrittspartei zu zeigen, wie man im Handumdrehen eine von der Basis ausgehende „spontane“ Bewegung entstehen lässt. Bekannt sind auch die Beziehungen von Vlaams Belang zu den USA. Der Chef der flämischen Nationalisten Bart De Wever inspiriert sich am britischen Journalisten Theodore Dalrymple, dessen Ergüsse auch die amerikanische Tea Party zu schätzen weiß. Und der persönliche Berater von Geert Wilders [Chef der niederländischen populistischen Partei PVV] ist Paul Beliën, Ehemann von Alexandra Colen, Abgeordnete von Vlaams Belang, die ausgezeichnete Beziehungen zur amerikanischen Rechten unterhält.

Das absehbare Ende unserer sicheren Welt

Gemeinsam ist allen eine Paranoia vor dem Islam. Die Theorie von „Eurabien“, der zufolge muslimische Immigranten die fünfte Säule der Islamisierung Europas sind, ist beiderseits des atlantischen Ozeans populär. In verschiedenen US-Bundesstaaten versuchen Initiativen, die Anwendung der Scharia in den Gerichten zu verbieten, was ohnehin weit von der Realität entfernt ist. Dies zeigt, dass die Tea Party Personen wie Geert Wilders und Philippe de Winter näher steht, als man denken könnte.

Wen wundert’s? Schon 1964 beschrieb der amerikanische Historiker Richard Hofstadter in seinem zum Klassiker gewordenen Essay The Paranoid Style in American Politics diese Eliten, die alles aus dem Schatten heraus regieren. Während die Tea Party-Mitglieder Obama als Geheimagenten des Islam betrachten, sind ihre europäischen Pendants davon überzeugt, dass man in Brüssel versucht, einen diktatorischen europäischen Superstaat aufzubauen. Egal ob in den USA oder Europa, überall befürchtet man Verschwörungen gegen den kleinen weißen Bürger.

Dass sich die Situation im gesamten Okzident zuspitzt, ist im Übrigen verständlich. Die alte Welt, in der man sich sicher fühlte, wird nie zurückkehren. Beiderseits des Atlantiks hat die große Rezession Opfer hinterlassen. Arbeitslosigkeit, Armut und Zukunftsangst greifen um sich, und die Immigration wird zum Problem. Hinzu kommt eine Reihe von Revolten mit unsicherem Ausgang im Nahen Osten. So viel wäre gar nicht nötig, um Bedenken auszulösen.

Legitime Sorgen schlagen in irrationale Reaktionen um

In immer mehr Ländern ruft diese Situation feindselige Reaktionen der Wähler hervor, die versuchen, sich unter Berufung auf die idyllische Vergangenheit, die man in der Einbildung etwa in den 1950er Jahren ansiedelt, davon zu überzeugen, dass ohne den Rest der Welt alles wesentlich besser wäre. Alle, die nicht dieser Meinung sind, werden als Intellektuelle ohne jeglichen Draht zum Volk, als „schlechte Flamen“ bezeichnet oder sind keine „wahren“ Amerikaner oder Finnen. So drohen die legitimen Sorgen um den Zustand der Welt, in irrationale Reaktionen umzuschlagen, die alles noch verschlimmern.

Auf beiden Seiten des atlantischen Ozeans droht ein selbstzerstörerischer Teufelskreis. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass diejenigen, die derzeit die Populisten unterstützen, als Wähler noch feindseliger reagieren werden, so dass die Populisten weiter an Boden gewinnen und es noch schwieriger werden wird, vernünftige Lösungen für durchaus reale Probleme zu finden. In der Zwischenzeit macht die Situation, ohne von den eventuellen Katastrophen zu sprechen, das Regieren und Handeln zum Lösen der akuten Probleme zunehmend unmöglich. Dies muss man sowohl in Washington als auch in Helsinki und Den Haag feststellen, sowie bei den belgischen und europäischen Instanzen in Brüssel. (ae)

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