Ideen Krieg in der Ukraine

Die Aufopferung der Ukraine zeigt Europa, dass es immer noch Heldinnen und Helden braucht

Die Widerstandsfähigkeit der Ukraine gegen die russische Aggression offenbart einen scharfen Kontrast zwischen dem Heldentum der Aufopferung und der „post-heroischen Mentalität“ Europas. Denkende wie Hannah Arendt und Jan Patočka zeigen, dass Mut, Verantwortung und öffentliches Engagement auch in entpolitisierten, konsumorientierten westlichen Gesellschaften noch eine Rolle spielen, meint der litauische politische Philosoph Simas Čelutka.

Veröffentlicht am 18 Dezember 2024

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine und insbesondere die heldenhafte Entschlossenheit der Ukrainer*innen, ihre Heimat zu verteidigen, hat ein reges Interesse an Begriffen und Phänomenen wie Selbstaufopferung, Mut und politischer Freiheit geweckt. Wie lässt sich diese Entschlossenheit der Ukrainer*innen erklären, und wie ihr Fehlen bei den Europäer*innen? Verfügt Europa über die intellektuellen Fähigkeiten und das angemessene Vokabular, um das Wesen der Aufopferung zu erfassen?

Gewisse Zweifel daran äußerte der berühmte deutsche Philosoph Jürgen Habermas. In einem Text, den er zwei Monate nach Russlands umfassender Invasion der Ukraine verfasste, argumentierte er, dass die Europäer*innen zwar die Entschlossenheit und den Mut der Ukrainer*innen bewundern, aber kein volles Mitgefühl mit ihnen empfinden können, weil sich die Europäer*innen im Griff einer, wie er es nannte, „post-heroischen Mentalität“ befinden. Dies ist ein Echo auf ein Argument, das Habermas vor langer Zeit vorbrachte, als er schrieb, dass „die Aufklärungskultur das Opfer abschafft“.

In einem rein rationalen Universum, in dem sich gleichermaßen rationale Akteure treffen, um sich zu beraten und Kompromisse zu finden, gibt es keinen Bedarf mehr für Konflikte, Kämpfe, Risikobereitschaft, Heldentaten, radikale Entscheidungen und extreme Situationen, in denen es um Leben und Tod geht. Aus diesem Grund fällt es vielen im Westen so schwer, dem Ruf nach Verantwortung zu folgen und die Bedeutung der ukrainischen Aufopferung in ihrer ganzen Tragweite zu begreifen. Was hindert sie daran, das Phänomen der Aufopferung und ihre moralisch-existenzielle Bedeutung zu erkennen? Wie lässt sich das gegenwärtige Ungleichgewicht zwischen den politischen Eliten in West- und Mittelosteuropa erklären?


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Viele im Westen sind nach dem Fall der Berliner Mauer und Francis Fukuyamas Erklärung, das Ende der Geschichte sei erreicht, selbstzufrieden geworden. Die westlichen Eliten sahen in der liberalen Demokratie den unangefochtenen Höhepunkt der menschlichen Entwicklung, die letzte Station auf dem Weg des Fortschritts, und dementsprechend wurden Geschichte und Politik bereitwillig zugunsten von Wirtschaft, Handel, internationalem Recht und abstrakter Moral abgeschafft. Es war nicht mehr nötig, wirkliche Entscheidungen zu treffen und Opfer zu bringen. In dieser post-historischen Ära brauchen die Menschen nicht einmal mehr „traditionelle“ Tugenden zu kultivieren, vor allem nicht den Mut – wozu in aller Welt sollte man in diesem post-historischen Paradies Mut brauchen?

Ganz Europa wird als ein großer sicherer Raum gesehen, in dem man nur auf gleichgesinnte Liberale trifft, allenfalls auf respektvolle Gegner*innen, die einander zuhören und danach streben, eine gemeinsame Basis und schließlich einen Konsens zu finden. In diesem Bild der gesellschaftlichen Realität werden nicht nur Politik und Geschichte obsolet, sondern auch die Bedeutung der Freiheit ändert sich unweigerlich – sie wird von der Verantwortung entkoppelt.

Freiheit wird rein negativ – fass mich nicht an, misch dich nicht ein, halt dich fern von mir, ich verfolge meine eigenen Interessen, und niemand kann mir etwas vorschreiben. Das ist der Grund, warum es in Litauen und vielen anderen europäischen Ländern immer noch sehr schwierig ist, über die Wehrpflicht zu sprechen – die Menschen glauben, dass jemand anderes sich in Krisenzeiten für ihr Heimatland opfern wird; warum sollte ich das sein? Wie kann sich der Staat das Recht anmaßen, mich aus meinem Leben zu reißen und „meine Karriere zu ruinieren“?

Das Geschenk der Ukraine an Europa

Die Verbreitung dieser egozentrischen Weltsicht bestätigt die Tatsache, dass wir den Sinn für positive Freiheit verlieren – nicht die Freiheit von, sondern die Freiheit zu, die Freiheit etwas Sinnvolles zu tun, uns um unsere gemeinsame Welt zu kümmern, verantwortungsvoll zu handeln, unsere Zukunft aufzubauen und kreativ zu gestalten. Ich bin davon überzeugt, dass genau dies das Geschenk der Ukraine an uns alle ist: eine einmalige Chance, wieder zu historischen und verantwortlichen Akteurinnen und Akteuren zu werden, sich dem Ruf der Verantwortung zu stellen, von passiven und ängstlichen Zuschauenden oder, schlimmer noch, gleichgültigen Konsumierenden, zu engagierten Akteurinnen und Akteuren zu werden.

In diesem Zusammenhang lohnt es sich, auf die reiche moralische und politische Philosophie von zwei bahnbrechenden Denkenden des 20. Jahrhunderts zurückzukommen: die deutsch-jüdische Philosophin Hannah Arendt und der tschechische Denker Jan Patočka.

Arendt ist bekannt für ihren Versuch, ein ursprüngliches Konzept der Politik wiederzufinden. Es leitet sich von dem griechischen Wort Polis ab, das sich auf eine einzigartige Form des politischen Lebens bezieht, die von den Athenern der Antike entwickelt wurde. Es handelte sich um eine Lebensform, in deren Mittelpunkt die tägliche aktive Beteiligung der Bürger an den Alltagsangelegenheiten der Stadt stand. Die Athener schufen einen Raum zum Auftreten, in dem sie sich als Gleichberechtigte treffen und miteinander diskutieren, sich gegenseitig überzeugen und ihre gemeinsame Zukunft planen konnten. Der öffentliche Raum war eine Domäne, in der Rede und Überzeugung anstelle von Gewalt und Manipulation herrschten. Athen bezahlte seine Bürger sogar dafür, dass sie am politischen Leben teilnahmen und in den Geschworenengerichten saßen.

Es gab nicht nur Wahlen und eine ständige Rotation der Bürger durch verschiedene Ämter, sondern es wurde auch das Prinzip der Lotterie eingeführt, das ein massives Vertrauen in alle normalen Bürger zeigte (jeder konnte Magistrat werden) – ein heute unvorstellbares Maß an Vertrauen. Rotation und Losverfahren waren Ausdruck der Idee von Aristoteles, dass die Demokratie ein System ist, in dem „alle Bürger regieren und abwechselnd regiert werden“. Infolge dieser Betonung der aktiven Beteiligung und des direkten Engagements in der Politik entwickelten die Bürger ein ausgeprägtes Gefühl der staatsbürgerlichen Verantwortung für die Welt, in der sie lebten. Sie verstanden sich als Teil eines größeren Ganzen, zu dem sie einen ganz wesentlichen Beitrag leisteten.

Wenn Sie sich selbst als Teil eines größeren Ganzen verstehen, wird die Selbsttranszendenz zu einer zentralen existenziellen Orientierung in Ihrem Leben. Sie orientieren sich dann nach außen, bleiben nicht in Ihrem Privatleben mit seinen engen Interessen und Bedürfnissen stecken, sondern streben ständig nach vorne, in einer Geste der Fürsorge und Solidarität mit anderen. Wie Perikles in seiner berühmten Gefallenenrede sagt: „Wir sagen nicht, dass ein Mann, der sich nicht für die Politik interessiert, sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmert, wir sagen, dass er hier überhaupt nichts zu suchen hat.“

Hannah Arendt und der politische Mut

In der Politik übersetzt sich der ethische Begriff der Selbsttranszendenz in Mut und Bereitschaft zur Selbstaufopferung. Dementsprechend wird für Arendt der Mut zur wichtigsten politischen Tugend. Sie schrieb, dass wer das politische Feld betrat, zuerst bereit sein musste, sein Leben zu riskieren, und dass eine zu große Liebe zum Leben die Freiheit behindere und ein sicheres Zeichen von Sklaventum sei. (1) Politische Verantwortung verlangt von uns, unsere privaten Interessen um der gemeinsamen Welt willen zu überwinden.

In einer authentischen Politik hat die Sorge um das Schicksal der Welt Vorrang vor der Befriedigung biologischer und wirtschaftlicher Bedürfnisse oder von Konsumbedürfnissen. Es erfordert Mut, die schützende Sicherheit der eigenen Privatsphäre zu verlassen und sich den Angelegenheiten der Stadt zu widmen, sich dem Licht der Öffentlichkeit und den urteilenden Blicken anderer, einschließlich der Gegner, auszusetzen.


Die Ukrainer*innen, die Mut, Aufopferung und den Glauben an bestimmte Prinzipien verkörpern, geben uns eine seltene Chance, aufzuwachen, aus unserer gemütlichen, bequemen, gewohnten Weltsicht aufgerüttelt zu werden


Deshalb, so schreibt Arendt, befreie der Mut den Menschen von seiner Sorge um das Leben, für die Freiheit der Welt. Mut, so sagt sie, sei unverzichtbar, weil in der Politik nicht das Leben, sondern die Welt auf dem Spiel stehe. (2) Das ist eine ziemlich strenge Unterscheidung zwischen Leben und Welt, wobei das Leben als privat und biologisch und die Welt als intersubjektiv und kulturell-politisch verstanden wird. Diese Unterscheidung ist einer anderen Arendtschen Unterscheidung zwischen privat und öffentlich sehr ähnlich. Arendt sagt, dass für einen wahren Bürger das Schicksal der Welt wichtiger ist als persönlicher Gewinn oder individuelles Glück. Sie lässt sich von Machiavelli inspirieren, der, wie sie schreibt, mehr an Florenz als an seinem Seelenheil interessiert war. (3)

Öffentliches Glück vs. individuelles Glück

Diese Form der politischen Selbsttranszendenz bringt ein ganz besonderes Gefühl hervor, das Arendt in Anlehnung an die amerikanischen Gründerväter als „öffentliches Glück“ bezeichnet. Für die politischen Akteure ist die Teilnahme an öffentlichen Angelegenheiten weder eine Last noch ein Ärgernis, sondern eine Form des Vergnügens, von der sie wissen, dass sie nirgendwo anders erlebt werden kann als in der Öffentlichkeit mit anderen. Das öffentliche Glück wiederum bezieht sich auf etwas, das sich nicht auf das individuelle Glück reduzieren oder assimilieren lässt. Das wirft für uns heute die Frage auf: Kennen wir diesen Begriff des „öffentlichen Glücks“? Ich habe den Eindruck, dass heute mehr oder weniger jede(r) nur individuelles Glück empfindet. Das ist ein deutliches Zeichen für unsere entpolitisierte Mentalität.

Eines der größten Probleme unserer Zeit ist, dass wir dazu neigen, uns ausschließlich auf die Bedürfnisse des Privatlebens zu konzentrieren und die Welt und die Öffentlichkeit zu vergessen. Arendt assoziiert die Privatsphäre mit Arbeit, physischem Überleben und der Befriedigung von Grundbedürfnissen, die Öffentlichkeit hingegen mit Freiheit, Aktion, Rede und Solidarität. In der Öffentlichkeit treten wir als einzigartige Personen in Erscheinung, die sich angesichts unterschiedlicher Perspektiven auf ein und dieselbe Welt ständig selbst prüfen und so ihre eigenen Weltanschauungen bilden. Dieser Aspekt lässt sich durch die ontologische Kategorie der Pluralität erklären – die Erkenntnis, dass die Welt von verschiedenen Personen bewohnt wird, die ihre eigenen einzigartigen Standpunkte einbringen.

Arendt beschreibt das öffentliche Interesse als das Gemeinwohl, weil es in der Welt lokalisiert ist, die wir gemeinsam haben, ohne sie zu besitzen. (4) Mit anderen Worten: Die Welt ist nicht nur mir, meinen Freunden und Genossen gegeben, sondern wird vielmehr von einer Vielzahl von Menschen geschaffen und aufrechterhalten, die durch die Vielfalt der Standpunkte die Welt als einen gemeinsamen Raum des Auftretens etablieren. Diese Vision von Politik wird nicht nur durch Pluralität, sondern auch durch Nativität genährt – die menschliche Fähigkeit, etwas völlig Neues und Unerwartetes zu schaffen.

Wiederherstellung eines öffentlichen Raums

Im Westen fühlen sich heute viele Menschen nicht als Bürger*innen, als plurale und ursprüngliche Wesen. Das heutige Leben ist auf dem Primat von Wirtschaft, Arbeit, Karriere und Unterhaltung aufgebaut. Die Dominanz der sozialen Medien und der algorithmischen Steuerung entfremdet uns voneinander, von Fremden und letztlich von uns selbst. Für die meisten Menschen erschöpft sich die Beteiligung an der Öffentlichkeit darin, auf den „Gefällt mir“- oder „Gefällt mir nicht“-Button in den sozialen Medien zu klicken und höchstens alle vier oder fünf Jahre eine Stimme abzugeben. Wir sind bestenfalls zu passiven Zuschauenden und schlimmstenfalls zu apathischen, gleichgültigen Menschen geworden. Deshalb denke ich, dass wir heute versuchen sollten, die Materialität des öffentlichen Raums (seien es Rathäuser, Räte, öffentliche Diskussionen oder etwas in der Art) wiederzuerlangen – einen öffentlichen Raum als einen Raum des Auftretens zu schaffen.

In der Online-Welt fehlt dieses Element der direkten Begegnung auf Augenhöhe mit Gleichgesinnten, das für ein menschliches Gespräch charakteristisch ist. Die direkte Auseinandersetzung, vor allem wenn sie von der Bereitschaft zuzuhören genährt wird, ist eine zivilisierende Praxis, die es ermöglicht, dass im Gesprächsprozess Nuancen auftauchen und schließlich den eigenen ideologischen Eifer abschwächen, während Online-Tweets und -Kommentare dazu neigen, die Präsenz echter Menschlichkeit auszulöschen, und daher die Stammesperspektive schärfen, durch die wir Worte auf Bildschirmen betrachten. Aber wie können wir diese materielle Seite eines öffentlichen Raums unter den gegenwärtigen Umständen rekapitulieren – das ist natürlich eine offene Frage.

Die Aufopferung von Jan Patočka

Jan Patočka war ein Philosoph, der nicht nur über die Bedeutung der Aufopferung im technischen Zeitalter schrieb, sondern selbst die Moral der Aufopferung verkörpert: 1977, am Ende seines Lebens, beschloss Patočka, ein Risiko einzugehen und ein Sprecher der berühmten Dissidierendenbewegung Charta 77 in der Tschechoslowakei zu werden. Als Václav Havel mit dieser Bitte an ihn herantrat, zögerte Patočka wegen seines fortgeschrittenen Alters und seiner angeschlagenen Gesundheit eine Weile, aber schließlich wagte er es, die Herausforderung anzunehmen. Er übernahm eine führende Rolle in der Bewegung und veröffentlichte innerhalb weniger Monate zwei wichtige Texte im Untergrund, in denen er die moralischen Ziele und die umfassendere geistige Bedeutung der Charta hervorhob und erläuterte.

Diese Texte stellten die moralischen Grundsätze, insbesondere die Menschenrechte, über das politische Kalkül und lieferten damit eine normative, moralische Dimension, die im offiziellen Manifest fehlte. Die Verbreitung dieser Texte durch Patočka im Untergrund stärkte die Entschlossenheit der Dissidierenden weiter, verschärfte aber auch die Angriffe des Regimes auf Patočka. Er wurde wiederholt verhört, und nach dem letzten Verhör, das etwa 12 Stunden dauerte, verschlechterte sich sein Gesundheitszustand rapide, und er starb einige Tage später. Seitdem haben tschechische Dissidierende und Charta-Mitglieder dem Tod Patockas eine märtyrerische Bedeutung beigemessen und ihn als Opfer für die Freiheit und höhere Prinzipien interpretiert.


Das Geschenk der Ukraine an uns alle ist: eine einmalige Chance, wieder zu historischen und verantwortlichen Akteurinnen und Akteuren zu werden, sich dem Ruf der Verantwortung zu stellen, von passiven und ängstlichen Zuschauenden oder, schlimmer noch, gleichgültigen Konsumierenden, zu engagierten Akteurinnen und Akteuren zu werden


In zwei einflussreichen Texten der Charta 77 argumentiert Patočka eindringlich, dass es bestimmte Dinge, bestimmte Prinzipien oder moralische Ideale gibt, für die es sich zu sterben lohnt. Sein eigenes Handeln verkörpert ein seltenes Ereignis im intellektuellen Leben, bei dem die Worte und Taten eines Intellektuellen tatsächlich übereinstimmen. Hochtrabende Rhetorik bleibt leer, wenn sie nicht durch Erfahrung und konkrete Taten untermauert und bestätigt wird. Wie Patočka in einem dieser Charta-Texte schreibt, sei sich das Volk wieder bewusst geworden, dass es Dinge gibt, für die es sich zu leiden lohnt, dass die Dinge, für die wir vielleicht leiden müssen, diejenigen sind, die das Leben lebenswert machen, und dass ohne sie alle unsere Künste, Literatur und Kultur zu bloßen Berufen werden, die nur vom Schreibtisch zur Kasse und zurück führen.

Patočka ging es darum, dass die technologische (oder, wie er es nannte, „techno-wissenschaftliche“) Weltsicht uns daran hindert, die moralische Bedeutung der Selbstaufopferung anzuerkennen und zu würdigen. Aus technologischer, wirtschaftlicher oder wissenschaftlicher Sicht ist Aufopferung unmöglich – sie ist lediglich eine Nutzung von Ressourcen. Deshalb gibt es heute im Westen so viel Zynismus gegenüber der Ukraine: Die Ukrainer*innen werden ihrer Subjektivität beraubt und nur als Rädchen, als Statistik, als kleine Figuren auf einem riesigen geopolitischen Schachbrett betrachtet. Die ukrainischen Soldatinnen und Soldaten und Bürger*innen werden als Ressourcen angesehen, als stehende Energiereserve neben Panzern und Waffen.

Die Solidarität der Erschütterten

In diesem Kontext wird es sehr schwierig, das zu schaffen, was Patočka „die Solidarität der Erschütterten“ nennt, die Solidarität der Leidensgenossinnen und -genossen, die sich in einer gemeinsamen Situation der Zerbrechlichkeit und Verletzlichkeit befinden, einer überwältigenden und tragischen Begegnung mit dem Bösen. Eine solche Solidarität fehlt, wenn Menschen und Nationen nur an sich selbst denken. Deshalb waren Patočka und Arendt so kritisch gegenüber dem Begriff der Souveränität – sie schafft eine Illusion von Selbstgenügsamkeit, Selbstbeherrschung und totaler Kontrolle. Sie kann nur zu nationalem Egoismus und gefährlichen Expansionsträumen führen. Arendt behauptet ganz offen, dass wahre Freiheit nur unter den Bedingungen der „Nicht-Souveränität“, der Pluralität, erfahren werden kann.

Leider hat der Krieg Russlands gegen die Ukraine trotz all seiner Schrecken Europa noch nicht existenziell erschüttert. Und ein Teil der Schuld liegt wieder bei der Technologie, insbesondere bei den globalen Medien und den sozialen Medien, die eines der besten Beispiele für moderne Technologie sind. Wenn man Kriegsbilder in den Nachrichten sieht, werden sie zur Routine, nur eine Nachricht unter vielen anderen Nachrichten, und allmählich werden wir desensibilisiert, verunsichert und schließlich gleichgültig. Gleichgültigkeit: Das ist ein sehr wichtiger ethischer Begriff. Patočka sagt in seiner Formulierung des Konzepts der Aufopferung, dass die Aufopferung eine Rückkehr zur Nichtgleichgültigkeit ist, zu dem Gefühl, dass im Leben höhere und niedrigere Dinge existieren.

Die Technologie hingegen lässt uns glauben, dass es nur reine Immanenz, reine Horizontalität gibt, wo nichts wirklich zählt, alles relativ ist. Indessen sagte Peter Pomerantsev bekanntlich: „Nichts ist wahr und alles ist möglich“. Die Ukrainer*innen, die Mut, Aufopferung und den Glauben an bestimmte Prinzipien verkörpern, geben uns eine seltene Chance, aufzuwachen, aus unserer gemütlichen, bequemen, gewohnten Weltsicht aufgerüttelt zu werden, aus dem, was Patočka manchmal „Alltäglichkeit“, manchmal „Fesselung an das Leben“ nennt. Die Ukrainer*innen geben uns die Chance, uns aus der seichten Anonymität und Langeweile auf eine Ebene authentischer menschlicher Existenz zu erheben, wo wir beginnen, uns für etwas mehr zu interessieren, etwas, das unsere Versklavung an materielle Dinge und Konsum übersteigt und überwindet.

Europa, der Ritter und der Bourgeois

Ich bin auch der festen Überzeugung, dass wir Intellektuellen heute eine ganz klare Pflicht haben: den Ukrainer*innen, den ukrainischen Stimmen zuzuhören. Sie müssen so laut wie möglich gehört werden, und wir müssen verstehen, was sie uns sagen. Deshalb möchte ich mit zwei Zitaten von bekannten Ukrainern schließen. Der ukrainische Philosoph Volodymyr Yermolenko behauptet, dass es zwei Herzen Europas gibt, zwei verschiedene Ethiken oder Moralvorstellungen, die für Europa charakteristisch sind:

„Das eine ist die Ethik der Agora, eine Ethik des Austauschs. In der Agora geben wir etwas, um mehr zu bekommen, als wir hatten. Wir tauschen Waren, Gegenstände, Ideen, Geschichten und Erfahrungen. Die Agora ist ein Positivsummenspiel: Jeder gewinnt, auch wenn einige versuchen, mehr zu bekommen als die anderen.

Das zweite ethische System ist das des Agon. Der Agon ist ein Schlachtfeld. Wir betreten den Agon nicht, um zu tauschen, sondern um zu kämpfen. Wir träumen davon, zu gewinnen, sind aber auch bereit, zu verlieren – auch uns selbst, sogar im wörtlichen Sinne des Sterbens für eine große Sache. Hier gilt nicht die Logik eines Positivsummenspiels; es kann keine ‚Win-Win-Situation‘ geben, denn eine der beiden Seiten wird mit Sicherheit verlieren.

Der Aufbau Europas basiert auf einer Kombination von Agora und Agon. Es trägt das Bild des Ritters und des Bourgeois. Europas kulturelles Erbe ist ohne die Ethik des Agon nicht denkbar: ob es sich um mittelalterliche Romane mit ihrem Kult der Ritterlichkeit und Treue handelt oder um frühneuzeitliche Dramen, deren Figuren für ihre Prinzipien und Leidenschaften sterben. Aber Europa ist auch undenkbar ohne die Kultur der Agora, des Gesprächs, des Kompromisses, der Sanftheit.“

Yermolenko behauptet zu Recht, dass das heutige Europa ausschließlich die Ethik der Agora praktizieren will. Es besteht heute ein spürbares Ungleichgewicht zwischen diesen beiden Ethiken. Die Ethik des Agon, die Ethik des Mutes und der Aufopferung – daran müssen sich die Europäer*innen heute erinnern und ihr genügend Gewicht und Beachtung schenken. Sie sollten sich nicht scheuen, die „post-heroische“ Mentalität, die – wie Habermas behauptet – Europa bestimmt, in Frage zu stellen.

Aber ich möchte mit einer optimistischen Note schließen. Der berühmte ukrainische Historiker Yaroslav Hrytsak schreibt in seinem neuesten Buch Ukraine: Biographie einer bedrängten Nation, dass die ukrainische Geschichte eine Grundlage für einen begrenzten, aber vertretbaren Optimismus biete. Er sagt, dass sie in diesem Sinne nicht einzigartig sei und fordert die Lesenden auf, an David und Goliath, die griechisch-persischen Kriege, den Fall des Faschismus und des Kommunismus, die Geschichten von Frodo und Harry Potter zu denken. Seiner Meinung nach spiele es keine Rolle, ob diese Geschichten fiktiv oder real sind. Wichtig sei, dass sie uns daran erinnern, dass der Teufel – ob in der Bibel oder in der Geschichte – eine erbärmliche Kreatur ist. Er könne zerstören, versklaven und korrumpieren, aber nicht gewinnen.

Fußnoten

1) Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben

2) Hannah Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft

3) Hannah Arendt, Responsibility and Judgment 1959-1975

4) Hannah Arendt, Public rights and private interests

Dieser Text ist die Transkription des Vortrags, den Simas Čelutka im Oktober 2024 auf einer von der litauischen Kulturzeitschrift Kulturos Barai und Eurozine organisierten Konferenz in Vilnius gehalten hat.

🤝 Dieser Artikel wird im Rahmen des Gemeinschaftsprojekts Come Together veröffentlicht.

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