Reportage Krieg in der Ukraine | Bessarabien

Wie prorussische Tendenzen in Bessarabien Kiew in Gefahr bringen

In der Berichterstattung über den Krieg wird häufig von der Einheit der ukrainischen Bevölkerung gegenüber dem gemeinsamen Feind gesprochen, doch unterschwellig hegen Teile des Landes noch starke, wenn auch leise Sympathien für Moskau. Eines dieser Gebiete ist Südbessarabien, von den Einwohnern auch Budschak genannt, im äußersten Südwesten der Ukraine.

Veröffentlicht am 2 Juni 2022 um 12:11

Die Medien porträtieren die Ukraine meist als einträchtiges Land, das sich der russischen Aggression geschlossen entgegen stellt. Niemand würde bestreiten, dass Putins Gräueltaten - entgegen seiner Absichten - die zuvor zerspaltene ukrainische Identität erheblich gefestigt haben. Das mutige Verhalten des Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, der in einer orientierungslosen Welt für viele Menschen eine Inspiration war, hat die Bevölkerung wieder um die blau-gelbe Flagge herum vereint. Umfragen zufolge ist seine Zustimmungsrate, die vor dem Krieg ziemlich schwach war, auf über 90 % gestiegen. Auch viele russischstämmige Menschen in der Ukraine, die der Regierung in Kiew früher meist misstrauisch und mit Unmut gegenüber standen, haben die Seiten gewechselt, seitdem die „Befreiungsbomben“ aus Moskau ihr Zuhause zerstört haben. 

Obwohl der Krieg tatsächlich einigen seit langem bestehenden sozialen und politischen Spaltungen in dem Land entgegenwirkt, ist die Situation vor Ort etwas komplizierter, wie ich vor kurzem auf einer Reise in eine abgelegene und bislang friedliche Region der Ukraine erfahren habe. Ihr historischer Name ist Südbessarabien, oder auch Budschak (in Übereinstimmung mit den lokalen Präferenzen und der Kürze wegen wird hier Bessarabien benutzt). Aus nachvollziehbaren Gründen tendieren unsere Medien dazu, hauptsächlich über Orte wie Mariupol, Charkiw und Butscha zu berichten, wo Schrecken, Tod und Zerstörung herrschen. Doch was fernab der Explosionen an der „ruhigen Front“ geschieht, gehört ebenso zum Geschehen.

Südbessarabien - die Bezeichnung „Budschak“ kommt von dem türkischen Wort für „Grenzgebiet“ - ist ein abgelegener Landstreifen im äußersten Südwesten der Ukraine und wird von der Oblast Odessa verwaltet. Umgeben von dem Fluss Dnister, dem Schwarzen Meer, der Donau und der Republik Moldau, mutet es auf der Karte an wie ein nicht ganz zugehöriges Anhängsel der Ukraine, ein weniger mondäner Cousin der Krim. In der ethnisch diversesten Region des Landes leben neben Ukrainern und Russen auch bulgarische, moldawische und albanische Gemeinschaften, sowie Gagausen (türkischsprachige orthodoxe Christen) und Lipowaner (Nachfahren von religiösen Nonkonformisten, die aus dem Russland des 18. Jh. geflohen sind, auch bekannt als „Altgläubige“). Während jede dieser Gruppen ihre eigene Kultur und Sprache bewahrt, hat sich in den letzten zweihundert Jahren die russische Sprache als lingua franca etabliert.

Die Geschichte von Bessarabien verlief nicht ganz geradlinig, um es milde auszudrücken. Im frühen 19. Jahrhundert eroberte Russland das Gebiet in einem Krieg gegen die zuvor herrschenden Ottomanen. Danach wurde es offiziell Bessarabien genannt und beinhaltete noch einen Großteil der heutigen Republik Moldau. Die Bevölkerung, die Nogaier-Tataren, wurde vertrieben und von christlichen Siedlern ersetzt, die hauptsächlich aus Gebieten des Osmanischen Reiches stammten.

Nach dem Umbruch der Oktoberrevolution beanspruchte Rumänien 1918 die Region für sich und folgte damit eigenen expansionistischen Ambitionen. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges annektierte die Sowjetunion das Gebiet für kurze Zeit, bis es wieder Teil von Rumänien wurde und ein Jahr später wiederum an die Sowjets ging. Nach dem Zerfall der UdSSR wurde Südbessarabien der heutigen Ukraine zugesprochen und ein kleinerer Teil des damaligen Bessarabiens der Republik Moldau.

Seitdem es zur unabhängigen Ukraine gehört, hat Bessarabien es nicht ganz leicht gehabt. Wie auch andere Teile des Landes - und die meisten postsowjetischen Staaten - hat es stark unter der Wirtschaftskrise der postsozialistischen Jahre gelitten. Doch hier waren die Verluste besonders groß. Nach der Schließung der Fischereibetriebe und der Auflösung der Agrargenossenschaften blieb ein großer Teil der Bevölkerung verarmt und verärgert zurück. Zwielichtige Unternehmer, die oft Bezüge zur früheren Kommunistischen Partei und zum KGB hatten, machten die Region zu ihrem persönlichen Machtbereich, inklusive der Unternehmen und Gemeinschaften. Kiew kümmerte sich wenig um das weit entfernte Bessarabien, das somit auf sich allein gestellt war.


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Auf diesen Ereignissen basiert die Sowjet-Nostalgie, die von der sozialen und politischen Vernachlässigung vonseiten Kiews noch weiter begünstigt wird. Die Wahlergebnisse wurden in der Region immer von prorussische Parteien angeführt, ähnlich wie im Osten des Landes. Die russischen Massenmedien haben sich als Hauptinformationsquelle etabliert. Die Revolution auf dem Maidan 2014 löste hier eher ablehnende Reaktionen aus, Putins Annexion der Krim hingegen wurde nicht wenig bejubelt. Als vor kurzem dem Russischen der Status als Regionalsprache aberkannt und eine Bildungsreform eingeführt wurde, die Ukrainisch als Bildungssprache in den Schulen vorschreibt, wurde dies ebenfalls heftig diskutiert.

Die Kreml-Propaganda heizte die Diskussion zusätzlich an. In den Jahren 2014 und 2015 wurde Bessarabien sogar vom russischen Geheimdienst dazu motiviert, eine separatistischen Bewegung zu bilden, die auf die Gründung „einer Volksrepublik“ nach dem Modell von Donezk und Luhansk abzielte. Doch der undurchsichtige Krieg im Donbass dämpfte die Bereitschaft und das Wohlwollen der Menschen. Der ukrainische Geheimdienst wollte dies schnellstens verhindern und erstickte die Verschwörung im Keim.

Zwei Wochen nach dem Ausbruch des aktuellen Krieges überquerte ich die Donau mit einer Fähre von Rumänien nach Bessarabien. Meine ersten Kontakte dort waren proukrainische Einheimische, von denen ich bereits einige bei früheren Besuchen in dem Gebiet getroffen hatte. Alle von ihnen waren von einem neuen patriotischen Geist eingenommen und entschlossen, sich um jeden Preis gegen Russlands Aggression zur Wehr zu setzen.

Ivan Rusew ist ein Freund von mir, bulgarischstämmiger Ukrainer und einer der mutigsten und engagiertesten Umweltschützer, die ich kenne. Er hat begonnen, gemeinsam mit seiner Kollegin Iryna Vykhrystyuk, der Leiterin des Nationalparks Tuzly-Lagunen an der Schwarzmeerküste Bessarabiens, anstelle der Wilderei die russische Invasion zu bekämpfen. Jaroslaw Kitschuk, der Rek…

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