Nachrichten Wahlen in Katalonien
Unabhängigkeitsdemonstration an Kataloniens offiziellem Feiertag, Barcelona, 11. September 2012.

Unabhängigkeit über alles

Die Katalanen wählen am Sonntag und alle reden nur über das Eine: die Selbstbestimmung. Brennende Themen wie Arbeitslosigkeit, Bildung oder Gesundheit sind aus dem Wahlkampf völlig ausblendet, beschwert sich ein katalanischer Journalist.

Veröffentlicht am 23 November 2012 um 16:23
Unabhängigkeitsdemonstration an Kataloniens offiziellem Feiertag, Barcelona, 11. September 2012.

Diese Wahlkampagne hat den entschiedenen Vorteil, dass sie sich sicher nur um ein Thema dreht. Ein Thema, das die Katalanen beschäftigt, interessiert und beunruhigt. Ein einziges Thema. Wir erörtern es an der Theke, zu Hause, im Geschäft und auf der Straße. Wenn ich einen Sender einstelle, der nicht über das Thema berichtet, frage ich mich bestürzt, ob ich noch in meinem Land lebe.

Das Thema ist allgegenwärtig, es durchdringt und umschließt alles. Im Fernsehen wird ständig und überzeugend davon gesprochen. Das Thema bewegt sich auf allen Ebenen und in alle Richtungen. Ich habe nordamerikanische, britische, deutsche, italienische und schwedische Journalisten empfangen, die mir Fragen dazu stellen.

Es sieht ganz so aus, als ob das Thema, über das am Sonntag abgestimmt wird, auf der Tagesordnung des Weißen Hauses, des Kremls und des Volkspalasts in Peking stehen würde. Paris, London und Berlin hängen an unseren Lippen und verfolgen gespannt unser Thema. Der irische Schriftsteller James Joyce soll einmal einen Landsmann gefragt haben: „Wenn wir schon nicht das Land wechseln können, könnten wir wenigstens das Thema wechseln?“ Bei uns lautet die Antwort: Nein, das Thema bleibt das Thema.

Und was ist mit der Arbeitslosigkeit?

Thema ist, dass wir uns am Sonntag für verschiedene Parteien entscheiden können, die eine Befragung über das Entscheidungsrecht ankündigen, ein Euphemismus für die Unabhängigkeit der Region, die einige schon sehr bald sehen, andere für die kommende Legislaturperiode versprechen und die dritten in weiter Ferne wähnen. Die Separatisten haben nicht alle dieselben Taktiken, Strategien und Zeitpläne. Aber die Wahl am Sonntag verleiht ihnen ein gemeinsames Ziel und ein gemeinsames Thema.

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Die Gegenfront, die Gegner des Themas, sehen die Lage ganz anders. Die Volkspartei [, die die Regierung in Madrid stellt] rührt die politische Medientrommel, als ob der Weltuntergang vor der Tür stünde. Die Ciutadans [anti-nationalistische Mitte Links] interessieren sich weniger für das Thema, sondern eher für Sujets, die der Regierung peinlich sind. Die Sozialisten wollen die Straßen der Innenstadt besetzen, haben aber so viele Anhänger verloren, dass sie nun am Rand des Abgrunds stehen.

Das Thema berücksichtigt nicht das Schicksal der Immigranten. Das Thema wird nicht wie üblich auf den Märkten debattiert. In den Fischhandlungen und Gemüseläden sind kaum Politiker zu sehen. Sie fürchten wohl, man könne ihnen vorwerfen, dass es neben dem Thema noch andere Probleme gibt. Arbeitslosigkeit ist wohl das schwerwiegendste. Sozialhilfe, Bildung, Gesundheit, Sicherheit, Korruption und Menschlichkeit sind aus dem politischen Diskurs verschwunden. Diese Probleme werden sich von selbst lösen, wenn das Thema aufhört, Traum zu sein und Wirklichkeit wird. Wir werden in einem Land leben, wo Milch und Honig fließen. Das Thema wird uns glücklich machen.

Aus Madrid

Wir müssen reden

Was passiert wohl „nach dem Lärm“, fragt sich Fernando Vallespín in El País. In der auslaufenden Wahlkampagne zieht der Politologe eine eher negative Bilanz:

Wir haben selten an einer so lebhaften Diskussion über unsere Identität teilgenommen. [...] Trotzdem sind wir nicht im Geringsten weitergekommen und konnten das gegenseitige Verständnis nicht verbessern. Statt Brücken zu schlagen, haben die emotionsgeladenen Reaktionen der meisten Madrider Medien und das messianische Erlösungsgeschrei aus der Heimat von Artur Mas die Polarisierung intensiviert. Das relative Schweigen der nicht separatistischen Stimmen, das sicher auf ihre Perplexität zurückzuführen ist, hat den Augenblick hinausgezögert, in dem die andere Stimme Kataloniens, der mittlere Weg, der tertius genus, Ohr finden konnte.

Nun, meint Fernando Vallespín, müsse endlich ein Dialog beginnen:

Wir haben eine einzigartige Gelegenheit verpasst, um die tieferen Gründe dieser Explosion einer Gesellschaft zu verstehen, die bislang ein Beispiel für Mäßigung und Dialogbereitschaft war.[...] Wenn wir nach dem Lärm und Geschrei wieder eine gewisse Ordnung anstreben, haben wir keine andere Wahl, als Brücken zu schlagen, uns einander anzunähern, miteinander zu sprechen und uns wie zivilisierte Menschen zu verhalten.

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