Schuhfabrik von Oliver Sweeney, Corridonia, Italien.

Und was ist mit Wachstum?

Bei den Beschlüssen der 17 Euro-Länder wurde ein entscheidendes Thema ausgespart - das Wachstum. Zwei Probleme bleiben damit ungelöst: das Fehlen einer gemeinsamen volkswirtschaftlichen Politik und die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den Mitgliedsländern.

Veröffentlicht am 28 Oktober 2011 um 15:00
Schuhfabrik von Oliver Sweeney, Corridonia, Italien.

Auch wenn die Einigung, die morgens um vier in Brüssel erzielt wurde, viel Applaus bekam, viele Fragen bleiben offen. Sie werden sich in erster Linie um den Europäischen Stabilitätsfonds (EFSF) drehen. Das neue Hilfspaket wurde zunächst um die Sicherung eines Schuldenschnitts für die Krisenländer geschnürt. Allerdings kann die Wirksamkeit eines Teilschuldenerlasses bezweifelt werden. Weiterhin wurde die Schlagkraft des Rettungsfonds auf eine Billion Euro vervielfacht.

Zudem soll ein weiterer Fonds – ein so genannter “Sondertopf” – geschaffen werden, an dem sich ausländische Investoren, beispielsweise aus China, beteiligen können. Dieser Vorschlag stößt nicht ohne Grund auf heftige Kritik. Soll man sich direkt in die Hände Chinas begeben? Bedeutet das etwa, nicht mehr gegen den Wert des Yuan agieren oder gar die eine oder andere chinesische Politik in Frage stellen zu können?

Über das Problem des Wachstums wurde allerdings nicht gesprochen. Dieses Übel hat zwei Wurzeln: die fehlende gemeinsame Politik im Bereich der Makroökonomie und die extremen wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den Mitgliedsländern.

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Der erste Punkt wurde zwar beim Gipfeltreffen ausführlich diskutiert, allerdings nur unter dem Gesichtspunkt der Aufsicht. Die Staats- und Regierungschefs wollen einerseits die Schaffung einer Regierung der Euro-Zone fördern. Dabei riskieren sie bewusst einen Bruch mit den Unionsländern, die nicht Mitglied der Eurozone sind. Zudem könnten sie unbewusst ein neues Feuer in Europa schüren. Der neue “Eurogipfel” wird nun von den Staats- und Regierungschef geleitet, und nicht mehr von den Finanzministern.

Disziplin an der Grenze zur Vormundschaft

Die Entscheidungen werden also eine Etage höher getroffen. Außerdem soll ein ständiges Sekretariat (mit dem seltsamen Namen Eurogroup Working Group) eingerichtet werden. Dessen Zusammenarbeit mit der Kommission ist noch völlig unklar, ebenso wie die Ausgestaltung nach föderalem oder zwischenstaatlichem Modell.

Ein weiterer Beschluss des Gipfels verstärkt die Haushaltskontrolle der Mitgliedsländer. Seit Beginn des Jahres wurde ein Koordinierungsmechanismus mit dem (weniger seltsamen, aber immer noch unverständlichen) Namen “Europäisches Semester” geschaffen. Er zwingt jedes Land, seinen Haushaltsplan mit Brüssel abzusprechen. Europa segnet so die nationalen Haushalte vor ihrer Verabschiedung ab.

Das waren aber noch nicht alle Beschlüsse vom Donnerstagmorgen. Bis Ende 2012 soll ein Gesetz der “Goldenen Regel” in die nationalen Verfassungen aufgenommen werden (es sollte erwähnt werden, dass die französischen Sozialisten damit in die Enge getrieben wurden). Die Staatshaushalte sollten nach “unabhängigen” Wachstumsperspektiven ausgerichtet sein, was einem angelsächsischen Haushaltskomitee sehr ähnelt. Und jede Haushaltinitiative, die Auswirkungen auf die anderen Länder haben könnte, muss der Kommission vorgelegt werden.

Für Länder, die die Maastrichtkriterien verletzen und “unter Beobachtung” gestellt sind, heißt das Motto Disziplin oder Vormundschaft. Denn die Kommission soll die Einhaltung des Haushaltsplanes “verwalten” (“monitor”).

Aber Aufsicht ist nicht Koordinierung. Deutschland gewinnt und schreibt eine verbindliche Disziplin vor. Das ist nicht schlecht. Frankreich, das von einer Wirtschaftsregierung träumt, hat das nichts eingebracht. Kein Wort fiel über eine gemeinschaftliche Wirtschaftspolitik der Eurozone. Stillschweigen wurde auch über die Risiken für das Wachstum bewahrt, wenn allen gleichzeitig Sparmaßnahmen auferlegt werden. Ebenso kein Wort über die Notwendigkeit für die Überschussländer (also Deutschland), im Gegenzug eine große Nachfrage im eigenen Land aufrecht zu erhalten.

Überschuss- und Defiziteuropa

Das Gleiche für die extrem unterschiedliche Wirtschaftslage. Die eigentliche Enttäuschung des Euro: anstatt sich unter dem Einfluss der gemeinsamen Währung anzunähern, haben die Wirtschaftssysteme das Gegenteil getan. Die Unterschiede in Produktivität, Arbeitsmarkt und Außenhandel sind noch größer geworden.

Der Riss zwischen dem Überschuss-Europa (schematisch gesehen) im Norden (Deutschland, Niederlande, Dänemark, Tschechische Republik, Ungarn), und dem Defizit-Europa im Süden (Griechenland, Italien, Spanien, Portugal, aber auch Frankreich) wird immer tiefer. Das Hauptproblem liegt darin, dass diese Länder immer weniger Industriegüter und Dienstleistungen produzieren und verkaufen. Sie leben also über ihre Verhältnisse. Welche Arbeitsplätze stehen Griechenland in zehn Jahren zur Verfügung? Das ist die entscheidende Frage, die aus der Krise der Eurozone resultiert und auf alle Südländer zutrifft.

Die Währungsunion war nicht ausreichend – im Gegenteil. In diesem Punkt irrt sich Deutschland. Die bisherigen und zukünftigen Finanztransferts reichen nicht aus. Was muss noch getan werden? Welche Mobilität, Wettbewerbsfähigkeit, Spezialisierung ist notwendig?

Das Brüsseler Abkommen beschränkt sich darauf, von Herman Van Rompuy Vorschläge bis zum Ende des Jahres zu fordern. Dass Europa das Notwendige akzeptieren wird, kann bezweifelt werden.

Aus dem Französischen von Martina Ziegert

Opinion

Der obskure Hegemon

Wer hat in Europa eigentlich das Sagen?, fragt sich der spanische Politologe Fernando Vallespín in El País.

Weder die Bürger, noch die Politiker; weder die großen Länder noch die kleinen; weder die Reichsten noch die Ärmsten. Dabei sind sich alle bewusst, dass ein gemeinsames Schicksal sie miteinander verbindet. […] Die gegenseitige Abhängigkeit ist so groß, dass die EU zu einer Union der zwangsläufigen Zusammenarbeit wurde. Vor allem hat sich aber der Eindruck verstärkt, dass die einzelnen Staaten durch ihr gemeinsames Wirken nicht gestärkt, sondern politisch geschwächt wurden […] und nur Deutschland den Kopf über Wasser zu halten scheint. [...]

Durch die Krise hat sich das “Szenario” also geändert. Bisher haben wir immer gedacht, die von den Staaten abgetretene Macht würde an die zentralen Institutionen der EU übertragen, und nicht an die Staaten mit dem größten wirtschaftlichen Einfluss […] Gut ist, dass wir jetzt endlich wissen, wer in Wirklichkeit das Sagen hat. Dass wir absolut nicht wissen, welche Führungsmethoden angewendet werden, ist dagegen bedauerlich. […] Die neue Macht versteckt sich hinter maximalem technokratischem Obskurantismus. […] Als Bürger verstehen wir nur Bahnhof, wenn uns grundlegende politische Entscheidungen ausschließlich in technisch-wissenschaftlichen Worten präsentiert werden […] Wir fühlen uns dann überflüssig, und daher ist es unlogisch, dass man uns anschließend fragt, wer das Sagen haben soll.

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