Ungarn geht uns alle an

Viktor Orbáns nationalistischer und autoritärer Kurs darf Europa nicht kalt lassen. Die Union muss Budapest als Gemeinschaft demokratischer Werte und Wirtschaftsunion das Messer auf die Brust setzen, meint Le Monde.

Veröffentlicht am 4 Januar 2012 um 14:48

Endlich wachen die Ungarn auf. Ganz so als würden sie aus einem fürchterlichen Albtraum aufschrecken. Am 2. Januar demonstrierten zehntausende Bürger in den Straßen Budapests gegen das Inkrafttreten der neuen Verfassung, die sie für undemokratisch halten. Ein ernstzunehmender Warnschuss für Ministerpräsident Viktor Orbán. Bisher war es der Opposition nie gelungen, ausreichend viele Menschen zu versammeln, um sich Gehör zu verschaffen. Bis zu diesem Montag, den 2. Januar.

Eine weitere bemerkenswerte Initiative: 13 ehemalige ungarische Dissidenten, die mit Orbán einst zu den führenden Antikommunisten gehörten, unterzeichneten einen Protestbrief. Darin heben sie hervor, dass “die ungarische Gesellschaft nicht nur Opfer der Wirtschaftskrise, sondern auch Opfer ihrer eigenen Regierung” ist. Für den Schriftsteller György Konrád, den früheren Antikommunisten László Rajk, den ehemaligen Bürgermeister von Budapest Gábor Demszky und andere hat diese Regierung die “Instrumente der Demokratie aus den Händen derjenigen gerissen, die sie zur Lösung ihrer Probleme hätten nutzen können”. Die Unterzeichner haben zu einer Unterschriftensammlung aufgerufen, die den europäischen Institutionen am 7. Januar vorgelegt werden soll.

Dieses [ungarische] Enfant terrible, das gerade mal sieben Jahre EU-Mitglied ist, hat die Europäische Union (EU) in eine heikle Situation gebracht. Die mit Schlägen gegen Medienpluralismus und beeinträchtigter Unabhängigkeit der Justiz gespickte Regierungspraxis Orbáns kann die EU nicht gleichgültig lassen. Bereits 2010 hatte sie diese energisch verurteilt. In einem Schreiben (das zweite innerhalb von zwei Wochen) warnte EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso Orbán Ende Dezember vor den Risiken seiner Politik. Ebenso wie Hillary Clintons Brief mit vergleichbarem Inhalt scheint auch diese Verwarnung keinerlei Eindruck gemacht zu haben. Noch kann die EU von Artikel 7 des Vertrags von LissabonGebrauch machen, mit dem den Mitgliedsstaaten, die gegen die demokratischen Regeln verstoßen, das Stimmrecht [im Rat] entzogen werden kann.

Allerdings ist es nicht so leicht, Sanktionen gegen eine Regierung zu verhängen, die demokratisch gewählt wurde. Zudem hat der österreichische Präzedenzfall in Brüssel schlechte Erinnerungen hinterlassen: Als eine rechtsextreme Partei 2000 an der Wiener Koalitionsregierung beteiligt wurde, reagierten die Europäer zunächst knallhart. Als ihnen anschließend aber klar wurde, dass ihr Protest ergebnislos bleiben würde, verzichteten sie darauf, einzuschreiten. Angesichts des wachsenden Einflusses der ungarischen Opposition, der Zivilgesellschaft und der Intellektuellen gerät die EU, die sich in erster Linie als Gemeinschaft demokratischer Werte versteht, immer mehr unter Druck.

Das Beste vom europäischen Journalismus jeden Donnerstag in Ihrem Posteingang!

Auch bei der Frage der ungarischen Wirtschaftspolitik darf Brüssel nicht nachgeben. Kraft eines eigentümlichen nationalistischen Kredos scheint Orbán davon überzeugt zu sein, sein krisengebeuteltes Land werde schon allein mit seinen Problemen fertig. Die von EU und IWF gestellten Bedingungen für finanzielle Hilfen lehnt er vehement ab. Folglich legten beide Institutionen die Verhandlungen mit Budapest auf Eis. Recht haben sie. Einem Land, dem die [gemeinschaftlichen] Regeln piepegal sind, darf Europa nicht finanziell unter die Arme greifen.

MEINUNG

Zweierlei Maß

Dass die EU stetig den Blick abwendet, während Victor Orbán in Ungarn ein “autokratisches Regime” errichtet, bereitet auch der Süddeutschen einige Probleme. Die Münchner Tageszeitung erinnert etwa daran, dass die USA die Lage für derart besorgniserregend halten, dass sie daran denkt sein Programm in ungarischer Sprache auf Radio Free Europe wieder aufzunehmen, dem einstigen Informationssender für die kommunistischen Länder des Ostblocks. Währenddessen tue die EU so als gehe sie das nichts an und pflege mit Orbán Umgang wie mit einem “lupenreinen Demokraten”:

Die Europäische Volkspartei, der Fidesz angehört, gebärdet sich geradezu als Kongress der Weißwäscher für den Autokraten in Budapest. Solidarität aber darf nicht nur in Geld- und Wirtschaftsfragen gelten, sie muss die demokratische Wohlfahrt der Völker mitbedenken. Denn eines steht fest: Mit diesen Gesetzen würde Ungarn niemals als Neuling in die EU aufgenommen. Als Mitglied aber wird seiner Regierung alles nachgesehen. Europa hat eine Gewissenserforschung über seine demokratischen Grundüberzeugungen nötig. Ungarn wäre Anlass genug dafür.

Tags
Interessiert an diesem Artikel? Wir sind sehr erfreut! Es ist frei zugänglich, weil wir glauben, dass das Recht auf freie und unabhängige Information für die Demokratie unentbehrlich ist. Allerdings gibt es für dieses Recht keine Garantie für die Ewigkeit. Und Unabhängigkeit hat ihren Preis. Wir brauchen Ihre Unterstützung, um weiterhin unabhängige und mehrsprachige Nachrichten für alle Europäer veröffentlichen zu können. Entdecken Sie unsere drei Abonnementangebote und ihre exklusiven Vorteile und werden Sie noch heute Mitglied unserer Gemeinschaft!

Sie sind ein Medienunternehmen, eine firma oder eine Organisation ... Endecken Sie unsere maßgeschneiderten Redaktions- und Übersetzungsdienste.

Unterstützen Sie den unabhängigen europäischen Journalismus

Die europäische Demokratie braucht unabhängige Medien. Voxeurop braucht Sie. Treten Sie unserer Gemeinschaft bei!

Zum gleichen Thema