Analyse Gegenseitige Hilfe in Europa

Die Verteidigung von Exilierten in Europa – eine unmögliche Aufgabe für ihre Anwälte?

Wie kann man sich weiterhin für die Rechte von Migranten einsetzen, wenn die Regierungen die Rechtsstaatlichkeit nicht mehr respektieren? In Belgien, Griechenland, Italien und Polen berichten drei Anwältinnen und ein Beauftragter für Engagement und Kommunikation zwischen Frustration und Hoffnung davon, wie wichtig es ist, Allianzen aufzubauen und den Blickwinkel zu ändern.

Veröffentlicht am 10 Mai 2023 um 10:17

Vor einigen Jahren hatte mir die italienische Anwältin Anna Brambilla bei einem Interview über den Pakt zu Migration und Asyl, den die Europäische Kommission gerade vorgelegt hatte, gesagt: „Ich schlage vor, eine grenzüberschreitende Selbsthilfegruppe für frustrierte Anwälte zu gründen“. Brambilla ist Mitglied des Netzwerks Associazione per gli Studi Giuridici sull'Immigrazione (Asgi). Ihre Idee – auf halbem Weg zwischen Witz und Aufruf zum Widerstand – entsprang der folgenden Feststellung: In einem europäischen Kontext, der Exilanten angesichts des immer schnelleren Abbaus des Asyl- und Ausländerrechts zunehmend feindlicher gegenübersteht, war die Verteidigung der Rechte von Migranten zu einer fast unmöglichen Aufgabe geworden. Der Beruf wird durch Regierungen, die das Gespenst der „militanten Anwälte“ heraufbeschwören, diskreditiert.

Seit 2020 hat sich die Situation nicht verbessert, was das Gefühl der Ohnmacht bei Anwältinnen und Anwälten noch verstärkt, die Asylbewerbern und anderen Personen zur Seite stehen, die eine Legalisierung ihres Aufenthalts in der Europäischen Union anstreben. Die europäischen Regierungen vom rechten bis zum linken Spektrum sind bestrebt, die Rechte von Ausländern zu beschneiden, indem sie die Gesetze ändern oder diese Rechte ignorieren und dabei die Grundrechte der Betroffenen mit Füßen treten.

Keine Praxis ist in dieser Hinsicht so emblematisch wie die der Rückschiebungen. Obwohl es nach internationalem Recht verboten ist, Asylsuchende in Gebiete zurückzuschicken, an denen ihr Leben oder ihre Freiheit bedroht sind, ist diese Operation in mehreren Mitgliedstaaten sowohl an den Außengrenzen (Bulgarien, Kroatien, Spanien, Griechenland, Ungarn, die Liste ist lang) als auch innerhalb der EU (z. B. an der französisch-italienischen Grenze), inzwischen alltäglich. Litauen ist gerade einen Schritt weiter gegangen und hat ein Gesetz verabschiedet, das die Praxis legalisiert. Die meisten Länder, die Zurückweisungen an der Grenze durchführen, verstoßen jedoch wissentlich gegen das Gesetz, indem sie dies tun.


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In Lesbos, einer griechischen Insel etwa zehn Kilometer von der türkischen Küste entfernt, erfolgen Abschiebungen „fast jeden Tag, manchmal mehrmals täglich, was die Behörden systematisch abstreiten“, kritisiert Ozan Mirkan Balpetek, Beauftragter für Engagement und Kommunikation beim Legal Centre Lesvos (LCL), einer in Griechenland registrierten gemeinnützigen Organisation, die kostenlose Rechtsberatung für Migranten anbietet.

In Polen beschreibt die Rechtsanwältin Aleksandra Pulchny, Mitglied der Association for Legal Intervention in Warschau, eine ähnliche Situation: „Seit August 2021 werden Menschen, die aus Weißrussland kommen, von polnischen Grenzschützern in den Wald von Białowieża gebracht. Das geht bis heute so weiter, denn trotz des Baus der Mauer an der Grenze gelingt es den Menschen immer noch, nach Polen einzureisen. Und obwohl wir Verurteilungen durch Gerichte erwirkt haben, weisen die Grenzschutzbeamten sie weiterhin zurück.“

Um ihre Maßnahmen zur rechtlichen und humanitären Unterstützung der an der Grenze ankommenden Menschen zu verstärken, hat die Organisation zusammen mit anderen Partnern das Netzwerk Grupa Granica gegründet. „Wir sind auch Teil des Migration Consortium“, erklärt Pulchny, „ein Netzwerk polnischer NROs, mit dem wir gemeinsame Positionen veröffentlichen und uns mit den Behörden treffen“. Auf europäischer Ebene ist die Organisation dem PRAB-Projekt beigetreten, das gegen Rückschiebungen kämpfende Organisationen zusammenbringt. „Der Zusammenschluss mit anderen Partnern ist von entscheidender Bedeutung“, versichert Pulchny.

Balpetek ist derselben Meinung, betont aber, wie wichtig es ist, Allianzen über die Grenzen der EU hinaus aufzubauen. Das ist anlässlich des siebten Jahrestags des Kooperationsabkommens zwischen der EU und der Türkei geschehen, das von LCL zusammen mit 73 Partnern angeprangert wurde. „Die Tatsache, dass Todesfälle in internationalen Gewässern oder im Niemandsland stattfinden, muss natürlich die in der EU tätigen Anwälte dazu bringen, mit Kollegen in den Nachbarländern zu kooperieren“.

So erwähnt Balpetek die laufende Zusammenarbeit im Fall Barış Büyüksu, einem türkischen Staatsbürger, der am 22. Oktober 2022 starb, kurz nachdem er in einem Floß vor der Küste der türkischen Stadt Bodrum gefunden worden war. Zeugenaussagen zufolge war er auf der griechischen Insel Kos angekommen, wo er von den örtlichen Behörden festgehalten und gefoltert worden war, bevor er zusammen mit 14 weiteren Personen abgeschoben wurde. Der Autopsiebericht, der kürzlich in der Türkei veröffentlicht wurde, bestätigt die Foltervorwürfe.

„Je mehr Abschiebungen zur Realität werden, desto mehr verspüren wir die Notwendigkeit, mit unseren Kollegen in der Türkei zusammenzuarbeiten“, erklärt Balpetek. „Das griechische Festland ist 500 km von Lesbos entfernt, aber jetzt, während ich spreche, kann ich von meinem Fenster aus die Türkei sehen. Europa endet nicht in Griechenland oder Bulgarien.“

Die drei Verbände setzen auf strategische Rechtsstreitigkeiten, d. h. die Entscheidung, symbolträchtige Fälle vor ein nationales oder internationales Gericht zu bringen, um einen umfassenderen Wandel auf rechtlicher und sozialer Ebene herbeizuführen. „Das kann nützlich sein, aber die Medaille hat eine Kehrseite“, bemerkt jedoch Brambilla, „Denn selbst wenn man einen Sieg erringt, organisiert sich die Macht neu, um dieses Ergebnis zu konterkarieren. Wir dürfen uns davon nicht entmutigen lassen, aber vielleicht sollte man den strategischen Rechtsstreit überdenken, um mögliche Reaktionen des Staates besser vorhersehen zu können.”


Ich sage oft, dass Ausländer ein Prüfstand für freiheitsberaubende Politik sind. Diese Art, an den Grundrechten zu nagen, probiert man zuerst an den Ausländern aus, weil das da niemanden interessiert. Es handelt sich um einen sehr gefährlichen Präzedenzfall - Selma Benkhelifa


Pulchny nennt ein konkretes Beispiel. Nach Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die die Inhaftierung von illegal aufhältigen Minderjährigen verurteilten, hatten einige polnische Gerichte ihre Positionen geändert“. Dann wurde vor kurzem das Zentrum für Ausländer in Kętrzyn im Norden des Landes, das für Familien mit Kindern diente, in eine Einrichtung nur für Männer umgewandelt. „Unserer Meinung nach geschah dies vielleicht deshalb, weil das Gericht, das die Fälle in Bezug auf diese Einrichtung prüfte, zu ‚minderjährigenfreundlich‘ geworden war“, erklärt die Anwältin. „Familien mit Kindern werden jetzt in einer anderen Stadt untergebracht, wo das Gericht nicht so sensibilisiert ist, und wir müssen unsere Arbeit von vorne beginnen.“

„Den Staat stört es, dass er sich dem Recht unterwerfen muss“, fasst die belgische Anwältin Selma Benkhelifa, Mitglied der Vereinigung Progress Lawyers Network, zusammen. Benkhelifa zitiert ein Gedicht von Bertolt Brecht, als ein Richter entscheidet, ihre Klientin, ein junges Mädchen aus Afghanistan, das in Belgien zur Schule geht, in ihr Heimatland zurückzuschicken: „Unsere Niederlagen nämlich / Beweisen nichts, als daß wir zu / Wenige sind / Die gegen die Gemeinheit kämpfen“.

„Ich habe den Eindruck, dass, als ich 2001 anfing, den Beruf auszuüben, Richter und Anwälte sich in den Grundlagen einig waren: Menschenrechte sind wichtig, eine schwarze und eine weiße Person sind gleich. Andererseits wurde uns gesagt: ‚Ihr Mandant lügt‘, und wir mussten beweisen, dass er die Wahrheit sagte. Seit einigen Jahren antwortet der Richter selbst dann, wenn wir nachweisen, dass die Person sterben könnte, wenn sie in ihr Herkunftsland zurückgeschickt wird, mit: ‚Pech gehabt‘“. Benkhelifa und ihre Kolleg*innen haben es sich zur Gewohnheit gemacht, zu mehreren zu plädieren, „wenn man Gefahr läuft, einem sehr feindseligen Gericht gegenüber zu stehen: um sich gegenseitig zu unterstützen, aber auch, weil man manchmal unglaubliche Dinge hört ... Dann fragt man sich, ob man träumt“.

In Belgien können es in jüngster Zeit selbst die Richter kaum mehr glauben: Trotz der mehr als 8.000 Verurteilungen durch das Arbeitsgericht und der zahlreichen Anordnungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte brechen die belgischen Behörden weiterhin das Gesetz, indem sie Tausende von Asylsuchenden, die alle ein Recht auf eine Unterkunft haben, auf der Straße stehen lassen. Für Benkhelifa stellt diese Weigerung, Gerichtsurteile zu respektieren, einen Wendepunkt dar: „Ich sage oft, dass Ausländer ein Prüfstand für freiheitsberaubende Politik sind. Diese Art, an den Grundrechten zu nagen, probiert man zuerst an den Ausländern aus, weil das da niemanden interessiert. Es handelt sich um einen sehr gefährlichen Präzedenzfall.“

Trotz des Umfangs der Herausforderungen ist der Wille zu kämpfen von Warschau bis Brüssel, von Lesbos bis Mailand ungebrochen. Das ist auch der Solidarität zu verdanken, die sich zwischen den Verfechtern der Rechte migrierender Menschen und um sie herum bildet. „Natürlich gibt es Frustration“, räumt Balpetek ein, „aber was uns weitermachen lässt, ist die enorme internationale Solidarität“, wie man sie im Fall der „Moria 6“ beobachten konnte: Sechs jungen Afghanen wurden auf der Grundlage zweifelhafter Beweise zu langen Haftstrafen verurteilt, weil sie im Jahr 2020 das Lager Moria auf Lesbos niedergebrannt haben sollen. Das Berufungsverfahren, das am 6. März 2023 beginnen sollte, wurde um ein Jahr verschoben. „Diese Solidarität ist wichtig für uns, aber auch für die inhaftierten Personen“. In der gesamten EU und darüber hinaus verstärken sich so die grenzüberschreitenden Verbindungen zwischen denjenigen, die Widerstand leisten – Juristen, NROs und Aktivisten.

Auch innerhalb der Gruppe der Juristen tut sich einiges. „Ich denke, dass sich angesichts der aktuellen Situation manche Kollegen radikalisieren“, bemerkt Benkhelifa, „und erkennen, dass man die Grenzen öffnen muss, wenn man keine Menschen mehr sterben lassen will“. Brambilla spricht von der Notwendigkeit, den Kurs und die Perspektive zu ändern, nicht ausschließlich in Asylfragen zu denken, sondern zur ursprünglichen Überlegung über Rechte, Bewegungsfreiheit und Migration zurückzukehren.

„Der Wandel muss auch kultureller und persönlicher Art sein“, betont sie. So bietet die Asgi ihren Mitgliedern seit 2022 Treffen mit Migrationsexperten aus anderen Bereichen als dem Recht an, um diesen Perspektivwechsel anzuregen und Isolation und disziplinäre Zersplitterung zu vermeiden. „Außerdem ist es offensichtlich, dass selbst unter den ‚Experten‘ das Wissen immer noch überwiegend weiß und westlich geprägt ist“, fügt Brambilla hinzu. Wie Rachele Borghi, Dozentin für Geografie an der Universität Paris-Sorbonne, sagt, ist es notwendig, „das Wissen zu dekolonisieren“, und zwar auch auf dem Gebiet des Rechts.

„Klar bin ich wütend, aber ich bin nicht verzweifelt, denn ich glaube, dass die Frage der Menschenrechte und der Demokratie ein ewiger Kampf ist“, schließt Benkhelifa. „Die Situation wird sich vielleicht noch ein paar Jahre lang verschlechtern, und dann dürfte es besser werden. Meine Entscheidung, Anwältin zu werden, ist nicht zuletzt auf meine Bewunderung für Gisèle Halimi zurückzuführen. Sie plädierte während des Algerienkriegs für Aktivistinnen und Aktivisten der Front de Libération Nationale, die zum Tode verurteilt worden waren. Halimi und ihre Kolleg*innen hatten den Mut, diesen Kampf zu führen, weil sie an ein freies Algerien glaubten. Ich bin stark genug von der Gleichheit aller Menschen und offenen Grenzen überzeugt, um diesen Kampf fortzusetzen, auch wenn es im Moment utopisch erscheinen mag.“


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