Anna Karenina in der Inszenierung des Litauers Eimuntas Nekrošius von 2008.

Vorhang auf für den Osten

Die großen Namen des europäischen Theaters danken ab und die Wachablösung erfolgt durch eine neue Generation von Regisseuren, von denen die meisten aus Mittel- und Osteuropa stammen.

Veröffentlicht am 27 Mai 2011 um 16:10
Anna Karenina in der Inszenierung des Litauers Eimuntas Nekrošius von 2008.

Im Jahr 2009 starb unerwartet Pina Bausch, die legendäre Gründerin des Tanztheaters Wuppertal. Der Regisseur Peter Brook, 86, hat die Intendanz des von ihm gegründeten Pariser Théâtre des Bouffes du Nord abgegeben. Und für Peter Stein, dem legendären Ex-Intendanten der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz, ist Regie heute kaum mehr als ein Steckenpferd. Auch Robert Wilson ist nicht mehr tonangebend. Doch mag die Natur kein Vakuum. Newcomer übernehmen im Laufe der politischen und sozialen Veränderungen auf dem Alten Kontinent die Posten der alten Meister.

Gymnastik aus Litauen****

Der erste Star aus dem neuen Europa ist der Litauer Eimuntus Nekrosius, geboren 1952 und ausgebildet in Moskau. Er schuf seine eigenen Handschrift, indem der Texte extrem tiefgehend seziert, dabei aber stets dem Autor treu bleibt. Seine Interpretationen machen Tschechow, Shakespeare oder von Goethes Faust zu zeitgenössischen europäischen Mythen. 1994 bekam er den großen Preis des renommierten Theaterfestivals "Neue Theaterwirklichkeiten“ von Torun, der die bedeutendsten und interessantesten europäischen Theatermacher auszeichnet.

Ein paar Jahre später entdeckte die Welt einen weiteren, erst 17 Jahre alten Litauer, Oskaras Korsuniovas, der 2001 ebenfalls mit dem Preis der "Neuen Theaterwirklichkeiten“ geehrt wurde. Er brachte das russische Theater des Absurden auf die europäischen Bühnen und hinterfragt die Absurdität der menschlichen Existenz und die Rolle des Zufalls im Leben. Zudem führte er die neue europäische Dramaturgie und ihre Auseinandersetzung mit Gewalt ins litauische Repertoire ein.

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Leitlinie des Theaters, das Oskaras Korsunova in Vilnius gründete: "Klassische Autoren mit zeitgenossischer Dramaturgie, und zeitgenössische mit klassischer Dramaturgie“. Ein Rezept, das auf allen Bühnen des Alten Europas mit Begeisterung aufgenommen wurde, einschließlich der Comédie Française.

Engagiertes Theater in Deutschland

Seit der Wende hat in Deutschland eine neue Regisseur-Generation das Heft in die Hand genommen, darunter die zwei Intendanten der größten Bühnen Berlins: Frank Castorf (Jahrgang 1951) an der Volksbühne und Thomas Ostermeier (Jahrgang 1968) an der Schaubühne. Während der vergangenen zwei Jahrzehnte haben sie auf den europäischen Bühnen den Ton angegeben.

Sie haben das Theater wiederbelebt, mit Konsum- und Kapitalismuskritik, indem sie die Zuschauer psychisch und manchmal auch physisch malträtieren. Sie denunzieren die Diktatur des Erfolgs und die verheuchelte Prüderie. "Die besten Inszenierungen Castorfs sind anstrengend, kompliziert, laut, aufregend und oft unlogisch. Es fehlt eine gradlinige Erzählung und eine interpretative Schlussfolgerung“, notierten Kritiker — mit Freude.

Regelüberschreitungen lautet die Devise des Theater Castorfs. Allerdings setzt Ostermeier auf zeitgenössische britische und deutsche Autoren, welche die brutalen sozialen Verhältnisse beschreiben. Es sind Geschichten von Verlierern, von Pennern, von Ausgeschlossenen. In seinen Klassiker-Inzenierungen arbeitet er gern mit typischen Räumen der neuen Bourgeoisie und spickt sie mit gemeinsamen Referenzen aus Fernsehserien, Kinofilmen und Popmusik.

In Polen heißen die führenden Theaterregisseure, die ebenfalls internationale Karrieren vorzuweisen haben, Krzysztof Warlikowski (Jahrgang1962) oder Grzegorz Jarzyna (Jahrgang1968), gefolgt von jüngeren wie Jan Klata, Maja Kleczowska oder das Duo Strzepka-Demirski.

Flämischer Tanz

Eine kleine Region im Norden des Kontinents stimuliert das europäische Theater: Flandern. Künstler aus Gent, Antwerpen und Brüssel haben ihre ganz eigene Theatersprache entwickelt. Ihre Stärke: die Ausbildung und ihre Erfahrungen mit anderen Kunstrichtungen wie Tanz, Art Performance, Visual Arts und Architektur, die ich ihre Bühnenarbeit mit einfließen.

Dem sozialkritischen deutschen Theater gaben sie frischen Wind, eine Art Leichtigkeit und Poesie (doch auch oft Gewalt) und eine sehr persönliche Erzählform. Jan Lauwers’ Needcompany ist ein Kollektiv von Performern, Tänzern, Sängern und Schauspielern. Jan Fabre benutzt dasselbe Prozedere — Performance, Theater, Tanz —, jedoch in einer düsteren, brutaleren Form. Er zögert nicht auf die Zuschaustellung der Körper oder Körperflüssigkeiten. Universelle Geschichten, welche die Zustände der europäischen Zivilisation beschreiben.

Und dann gibt es noch den in Deutschland ansässigen Luk Perceval, derzeit Intendant des Thalia Theaters in Hamburg. Und den Schweizer Christoph Marthaler, gelernter Musiker, dessen Theater ein Mittelding aus Konzert und Performance ist. Sein dem sozialen Klima Rechung tragendes Theater ist es zwischen dem belgischen und deutschen Theater anzusiedeln.

Jan Fabre ist den Visual Arts und Performance Arts verbunden. Der Italiener Romeo Castelucci ist einer der größten Visionäre des europäischen Theaters von heute. Er arbeitete mit dem Theaterkollektiv Societas Raffaello Sanzio. Sein Triptychon nach Dantes Göttlicher Komödie — „Hölle“, „Fegefeuer“ und „Paradies“ — war ein internationaler Erfolg. Im Jahr 2008 war er „Artiste associé“, Hauptgast und Mitgestalter, des Theaterfestivals von Avignon.

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