Was Lateinamerika Europa lehren kann

Die Schuldenkrise bringt die Eurozone in eine Lage, wie sie Lateinamerika in den Neunzigerjahren gekannt hatte. Und um sie schneller zu bewältigen, sollten die Europäer die Lehren aus den Fehlern jener Zeit ziehen, meint in einem Leitartikel der ehemalige venezolanische Minister Moises Naim.

Veröffentlicht am 9 November 2011 um 16:36

Vor ein paar Wochen nahm ich an einem Treffen in Brüssel teil. Der Zufall wollte, dass dies am selben Tag war wie der Gipfel, bei dem sich die europäischen Staats- und Regierungschefs auf einen Plan zur Stabilisierung ihrer Volkswirtschaften einigen sollten. Am Abend diskutierte ich mit ein paar Freunden, Ökonomen, die ihren Regierungen im Rahmen der Verhandlungen Lösungen unterbreitet hatten. Ihre Erfahrungen, ihre Ängste und ihre Erschöpfung weckten in mir zahlreiche Erinnerungen.

In den frühen Neunzigerjahren war ich Minister meines Landes Venezuela. Damals konnte die Regierung die Staatsschulden nicht mehr zurückzahlen und die Wirtschaft war in der Rezession. Seither habe ich für die Weltbank gearbeitet und wurde Zeuge ähnlicher Situationen in anderen Ländern. In den meisten Fällen wurden mehr Fehler gemacht als Erfolge gefeiert, doch wissen wir alle, wie viel man aus Fehlern lernen kann.

Während des Gesprächs mit meinen europäischen Freunden, erschienen mir die Ähnlichkeiten der aktuellen Krise mit den früheren Krisen anderer Länder frappierend. Doch so überraschend es auch klingen mag, kaum einer meiner Gesprächspartner wollte eingestehen, dass zur Bewältigung der Eurokrise ganz wesentliche Lehren aus den Erfahrungen Lateinamerikas gezogen werden können. “Europa ist anders“, widersprachen fast alle. “Wir haben den Euro. Unsere Volkswirtschaften und Finanzsysteme sind anders, ebenso unsere Institutionen und unsere Kultur.“ Daran zweifle ich keine Sekunde lang, doch sind auch andere Tatsachen ebenso überzeugend.

Mehr als nur Sparmaßnahmen

Zwischen 1980 und 2003 durchlebte Lateinamerika 38 Wirtschaftskrisen. Die Region, die Regierungen, die Politiker und selbst die Menschen insgesamt sind gestärkt aus diesen schmerzhaften Erfahrungen hervorgegangen. Und die wichtigste Lektion wäre vermutlich, was man “die Kraft des (Maßnahmen-) Pakets“ nenne könnte. Mit “Paket“ ist ein kompletter, vernünftiger, glaubwürdiger und politisch langfristig tragfähiger Maßnahmenkatalog für die Wirtschaft gemeint. Zumal — und das ist ein entscheidender Punkt — ein Paket nicht nur die Reduzierung der öffentlichen Ausgaben und weitere Sparmaßnahmen beinhaltet, sondern auch eine gerechtere Kostenverteilung zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen, eine Stärkung der sozialen Absicherung für die Schwächsten, Strukturreformen zur Schaffung von Arbeitsplätzen und vor allem die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Das Beste vom europäischen Journalismus jeden Donnerstag in Ihrem Posteingang!

Leider ist die heilsame Wirkung eines solch umfassenden und kohärenten Plans proportional zur Versuchung, ihn nicht umzusetzen. Der häufigste Fehler in Lateinamerika war, dass man es bei punktuellen und disparaten Maßnahmen beließ und glaubte, unpopuläre Entscheidungen auf ewig aufschieben zu können. Genau dies geschieht derzeit in Europa auch. Ein kurzer Blick nach Griechenland oder Italien und man hat vor Augen, was damals beispielsweise in Argentinien ablief. Doch rasch übernimmt die Wirklichkeit wieder das Heft und die Ad-hoc-Maßnahmen scheitern.

Dann ist der Augenblick gekommen, um in einer gemeinsamen Bemühung die verschiedenen Krankheiten der Wirtschaft gleichzeitig zu behandeln: die Überschuldung, die unkontrollierten Ausgaben, die ungenügend kapitalisierten und regulierten Banken, die separate Fiskal- und Geldpolitik, die schwache internationale Wettbewerbsfähigkeit sowie die investitions- und arbeitsplatzfeindlichen Gesetzgebungen. Nur eines oder ein paar dieser Probleme in Angriff zu nehmen, ohne sich um die anderen zu kümmern, kann keine Lösung sein. Ebenso wenig wie das Versprechen einer nahezu quasi permanenten Sparpolitik, um Auslandschulden zu begleichen.

Europa kann aus unseren Fehlern und Erfolgen lernen

Wenn kritische Stimmen heute verächtlich meinen, dass sich Europa immer mehr “lateinamerikanisiere“, dann haben sie dabei das Lateinamerika der Vergangenheit im Sinn, welches von Wirtschaftskrisen geplagt wurde. Mann kann die Dinge aber auch anders sehen: Das Beste, was Europa passieren könnte, wäre es, es dem heutigen Lateinamerika gleichzutun. Jenes Lateinamerika, das die globale Krise ohne Schiffbruch überstanden, seine öffentlichen Finanzen im Griff und sein Bankensystem reguliert hat.

Die Länder in der Region, denen es am besten geht, wie Brasilien, Chile oder Kolumbien, haben weiterhin ein positives Wachstum zu verzeichnen. Sie schaffen Arbeitsplätze und ihre Mittelschicht nimmt zu. Zudem besitzt — zur fast allgemeinen Überraschung — “Lateinamerika das solideste Finanzsystem der Welt“, wie es der Volkswirt der spanischen Bank Santander und der scharfe Beobachter der internationalen Finanzwelt José Juan Ruiz formulierte.

Europa soll natürlich nicht die Armut, Ungleichheit, Korruption und Gewalt, die noch in zahlreichen lateinamerikanischen Regionen herrschen, nachahmen. Es geht darum, aus den Fehlern und Erfolgen jenes Kontinents zu lernen, der die meiste Erfahrung mit Wirtschaftskrisen, Bank-Pleiten, externen Schocks, den Folgen von Verschwendung und Überschuldung, sowie den Versuchungen des Populismus hat. Es bleibt zu hoffen, dass Europa die gegenwärtige Krise ebenso meistern wird, wie es das neue Lateinamerika lernen musste. In diesem Sinne ist eine “Lateinamerikanisierung“ Europas sogar wünschenswert. (js)

Tags
Interessiert an diesem Artikel? Wir sind sehr erfreut! Es ist frei zugänglich, weil wir glauben, dass das Recht auf freie und unabhängige Information für die Demokratie unentbehrlich ist. Allerdings gibt es für dieses Recht keine Garantie für die Ewigkeit. Und Unabhängigkeit hat ihren Preis. Wir brauchen Ihre Unterstützung, um weiterhin unabhängige und mehrsprachige Nachrichten für alle Europäer veröffentlichen zu können. Entdecken Sie unsere drei Abonnementangebote und ihre exklusiven Vorteile und werden Sie noch heute Mitglied unserer Gemeinschaft!

Sie sind ein Medienunternehmen, eine firma oder eine Organisation ... Endecken Sie unsere maßgeschneiderten Redaktions- und Übersetzungsdienste.

Unterstützen Sie den unabhängigen europäischen Journalismus

Die europäische Demokratie braucht unabhängige Medien. Voxeurop braucht Sie. Treten Sie unserer Gemeinschaft bei!

Zum gleichen Thema