Straße in Monsaraz, in der portugiesischen Region Alentejo.

Werden die Portugiesen 2204 ausgestorben sein?

Eine rasant abnehmende Geburtenrate, weniger Arbeitsimmigration und eine höhere Abwanderung gut ausgebildeter Fachkräfte in wirtschaftlich solidere EU-Staaten – und die portugiesischen Politiker schauen weg. Wenn nicht bald etwas passiert, wird man im südwestlichsten Land Europas bald wie in einer „Wüste leben“, meint der Wirtschaftsjournalist João Silvestre.

Veröffentlicht am 18 Juli 2012 um 10:36
Straße in Monsaraz, in der portugiesischen Region Alentejo.

Der Titel ist absichtlich provokant formuliert, um die Aufmerksamkeit auf ein ernstes Problem zu lenken, das Portugal bedroht. Die portugiesische Bevölkerung nahm 2010 und 2011 ab. Alles deutet darauf, dass dieser Trend anhalten wird. Der negative natürliche Saldo (Unterschied zwischen Geburten und Sterbefällen) und der negative Wanderungssaldo (Unterschied zwischen Emigration und Immigration) in den letzten beiden Jahren führten zu einem Rückgang der portugiesischen Bevölkerung um 85.000 Menschen.

Von der demografischen Front kommen ständig neue schlechte Nachrichten

Seit Anfang der 1990er hat die portugiesische Bevölkerung nicht mehr abgenommen. Der natürliche Saldo rutschte zwar 2007 ins Minus, wurde aber von den räumlichen Bevölkerungsbewegungen wettgemacht. 2010 änderte sich die Lage plötzlich. Schlimmer noch, es besteht wenig Hoffnung auf eine baldige Besserung. Von der demografischen Front kommen ständig neue schlechte Nachrichten, sowohl in Bezug auf die Geburtenrate als auch auf die Migrationsbewegungen.

Den neuesten Schätzungen zufolge, die auf der Grundlage der Screeninguntersuchungen der Neugeborenen beruhen, dürften wir dieses Jahr noch weniger Geburten verzeichnen. Letztes Jahr waren es 97.000, dieses Jahr könnten es knapp 89.000 sein.

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Portugiesen wandern so zahlreich aus wie seit Jahrzehnten nicht mehr

Währenddessen sterben weiterhin rund 100.000 Menschen pro Jahr. Seit 2007 sind es im Durchschnitt 104.000. Letztes Jahr lag der natürliche Saldo mit 6.000 im Minus. Sollten sich die Geburtenprognosen bewahrheiten und sich die durchschnittliche Sterblichkeit nicht ändern, könnte der Sterbefallüberschuss sich dieses Jahr verdoppeln.

Gleichzeitig geht auch die Immigration zurück. Viele Ausländer, die in unserem Land leben, zieht es in ihr Land zurück. Portugiesen wandern unter dem Druck der Krise und der Arbeitslosigkeit heute wieder so zahlreich aus wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr.

Viele Auswanderer sind gut ausgebildet

Die Arbeitslosenquote ist der beste Indikator für die Attraktivität einer Volkswirtschaft. Bis 2010, das heißt beinahe zwanzig Jahre lang, verbuchte Portugal positive Wanderungssalden. Dies entspricht einer Zeit, in der die Arbeitslosigkeit stetig sank und 2000 mit nur 4 Prozent sogar einen Tiefpunkt erreichte. Davor hatten wir die letzten negativen Salden in den 1980ern verzeichnet, als der Internationale Währungsfonds eingriff und die Arbeitslosigkeit über die 10-Prozent-Schwelle kletterte (1984).

Die Flucht der Portugiesen ins Ausland hat nicht nur einen direkten Einfluss auf die Bevölkerungszahl. Da es sich meistens um junge Menschen handelt, belastet die Migrationswelle auch die Geburtenziffern im Inland. Abgesehen davon sind viele Auswanderer gut ausgebildet, Ingenieure zum Beispiel, die an den besten portugiesischen Hochschulen studiert haben und sich nun in Deutschland oder Belgien verdingen.

Folgen für Sozialversicherung, öffentliche Finanzen, Produktivität und Wirtschaftswachstum

Eine schrumpfende Bevölkerung ist eine schlechte Nachricht für alle Volkswirtschaften. Erstens, weil sie immer kleiner wird und in der Zukunft einfach verschwindet. Das Jahr 2204 ist das Ergebnis einer einfachen Rechenübung auf der Grundlage der dieses Jahr erwarteten Geburten, der prognostizierten Sterbefälle und des durchschnittlichen Migrationsdefizits der letzten beiden Jahre. Das heißt, wenn die portugiesische Bevölkerung weiterhin alljährlich einen Rückgang um 55.000 Menschen verzeichnet, ist sie 2204 ausgestorben. Diese Zahlen berücksichtigen nicht die im Ausland lebenden Portugiesen.

Zweitens, weil die eingeknickte Geburtenziffer und die hohe Auswanderung eine bereits überalterte Bevölkerung treffen und damit Folgen für Sozialversicherung, öffentliche Finanzen, Produktivität und Wirtschaftswachstum haben.

Leider befassen sich die Politiker nicht genug mit dieser ernsten Bedrohung, mit der Portugal konfrontiert ist. Dieses Problem hat nichts mit der Troika zu tun. Es ist ein sich seit geraumer Zeit abzeichnender und allmählich beschleunigender Trend. Ein Land ohne Menschen ist eine Wüste. Wie wir alle wissen, gefällt es mit einigen wenigen Ausnahmen niemandem, in einer Wüste zu leben.

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