Data COVID-19 UND DIE EUROPÄISCHE KULTURINDUSTRIE | 2

Die Show muss fair sein: Wie Corona die europäische Kultur- und Kreativindustrie verändert - Teil 2

Seit Beginn der Pandemie haben die wirtschaftlichen Verluste der europäischen Kultur- und Kreativwirtschaft Milliarden von Euro erreicht. Die EU ist mit ihrem Vorzeigeprogramm "Kreatives Europa" (Creative Europe) eingesprungen. Aber das System braucht mehr als Subventionen, und die Arbeiter in diesem Sektor haben begonnen, sich zu mobilisieren.
Teil 2 der Untersuchung von Alexander Damiano Ricci.

Veröffentlicht am 22 April 2021 um 17:44

Auch wenn die Auswirkungen von COVID-19 auf die Kultur- und Kreativbranche verheerend sind, wäre es falsch zu behaupten, dass die Situation vor der Krise rosig war. Laut einem Bericht von Ernst & Young (EY) befand sich die Branche zwar insgesamt im Aufwärtstrend, wenn man aber eine arbeitnehmerbezogene Perspektive einnimmt, erhält man ein etwas anderes Bild.

Tatsächlich wird im selben Bericht hervorgehoben, wie sehr der KKI-Sektor auf atypischen und befristeten Arbeitsverträgen aufbaut. Ein Blick auf die jüngsten Eurostat-Daten zeigt, dass die Selbstständigen im Kultursektor im Jahr 2019 fast die Hälfte der gesamten Beschäftigungsverhältnisse im Kulturbereich ausmachten: 47 Prozent in den Niederlanden und 46 Prozent in Italien. Zu den Mitgliedstaaten, in denen der Anteil der Selbstständigen im Kulturbereich über dem EU-Durchschnitt (32 Prozent) lag, gehören auch Griechenland (38 Prozent), die Tschechische Republik (37 Prozent), Irland und Spanien (jeweils 34 Prozent) sowie Deutschland (33 Prozent). Eine freiberufliche Tätigkeit geht im Allgemeinen mit einer größeren Anfälligkeit des Einzelnen auf dem Arbeitsmarkt einher. Und in vielen EU-Ländern bedeutet die Existenz als Freiberufler, dass man nicht von großzügigen Sozialleistungen profitieren kann, die für reguläre Angestellte vorgesehen sind.

Dies bedeutet, dass die Arbeitnehmer der KKI in der EU strukturell in prekäreren Verhältnissen lebten als andere, und zwar noch bevor COVID-19 den Sektor beeinträchtigte.


„In Europa gibt es mindestens 500.000 Berufsmusiker, aber nicht alle von ihnen sind gewerkschaftlich organisiert“, berichtet Benoît Machuel, Generalsekretär der internationalen Musikerföderation „Fédération Internationale des Musiciens“ (FIM). „Manchmal ist es einfach praktisch schwierig [, sich gewerkschaftlich zu organisieren], wenn man kein Angestellter ist. Wenn man Freiberufler ist, hindern einen die Wettbewerbsregeln bisweilen daran, von einer Gewerkschaft vertreten zu werden.

Das ist generell ein großes Problem für Musiker.“ Machuel erklärt, dass „die Arbeit als Musiker mitunter nicht genug Einnahmen generiert, um zur ausschließlichen beruflichen Tätigkeit zu werden. Manchmal bedeutet das, dass man als Musiker oder sogar als Performer – Schauspieler, Tänzer – einen zweiten Job haben muss, um über die Runden zu kommen.“ Die Zersplitterung der Arbeitskräfte des Kultur- und Kreativsektors ist auch eine Folge der Pfadabhängigkeit und der bloßen Tatsache, dass KKI-Aktivitäten oft auf Projektbasis organisiert werden. Neben den atypischen Arbeitsverträgen waren im Jahr 2019 nur drei Viertel (75 Prozent) der Arbeitskräfte im Kulturbereich in der EU-27 auf Vollzeitbasis beschäftigt.

In den letzten Monaten wurde in einer Reihe von Analysen versucht, die Auswirkungen der COVID-19-Krise auf das Leben von Arbeitnehmern im Kultur- und Kreativsektor, und insbesondere im Bereich der darstellenden Künste zu verstehen. In Finnland bestätigten drei Viertel der Künstler, dass COVID-19 ihrer Karriere geschadet hat. Dies geht aus den vorläufigen Ergebnissen einer Umfrage des Zentrums für kulturpolitische Forschung (Cupore) und des Zentrums für Kunstförderung (Taike) hervor. „Vor allem die unter 34-Jährigen und Freiberufler erwägen einen Karrierewechsel, und weibliche Künstler haben die negativen Auswirkungen der Pandemie stärker zu spüren bekommen als männliche Künstler“, berichtet Yle. Insgesamt haben 1.080 Künstler und 160 Gemeinden an der Umfrage teilgenommen.

Im Vereinigten Königreich führte die Organisation Parents and Carers in Performing Arts (PiPA) eine Studie zu den Berufsaussichten von darstellenden Künstlern mit Betreuungsaufgaben durch. In den Schlussfolgerungen des Berichts heißt es, dass „7 von 10 Befragten (72 Prozent) aus verschiedenen Gründen erwägen, ihren Beruf aufzugeben. Als Gründe, warum sie erwägen, den Beruf an den Nagel zu hängen, gaben ein Drittel (32 Prozent) der Eltern und Betreuer den Verlust des Einkommens und etwas mehr als ein Fünftel (22 Prozent) die fehlenden Arbeitsmöglichkeiten an. Aus den qualitativen Daten geht deutlich hervor, dass das Bedürfnis nach Stabilität groß ist, um die Familie ernähren zu können [...]. Für andere bedeuten die Lockdown- und Isolierungsmaßnahmen, dass sie ihren Beruf nicht mehr ausüben können. […] Und für 21 Prozent der Befragten hängt die Entscheidung, den Beruf aufzugeben, von der Art und Weise ab, wie sich die Branche von den Auswirkungen der Pandemie erholt. Dies macht deutlich, wie dringend sich die Branche auf eine integrative und zugängliche Weise erholen muss, um einen weiteren Verlust von Talenten zu vermeiden.“

Alles in allem kann man sagen, dass in der KKI – ähnlich wie in anderen Wirtschaftssektoren in Europa auch – ein starker Kontrast besteht: Einerseits gibt es die Arbeitnehmer, die aufgrund ihres Status als Angestellte stark durch die Sozialsysteme geschützt sind, andererseits die Freiberufler mit geringem Zugang zu Sozialsystemen. Zentral ist, dass es so scheint, als habe COVID-19 den Arbeitnehmern der KKI selbst die Augen geöffnet. In der Tat scheint es so, als hätte COVID-19 in vielen Ländern eine Wiederbelebung des Klassenbewusstseins innerhalb des Sektors bewirkt.

In Italien sind in den letzten Monaten beispielsweise prekär Beschäftigte im Bereich der darstellenden Künste in Aktion getreten und haben Proteste vor Theatern inszeniert, ohne dabei gegen die COVID-19-Gesundheitsschutzbestimmungen zu verstoßen. Sie haben eine umfassende Reform der Finanzierungsregeln des Sektors und neue Sozialbestimmungen gefordert, welche die freiberuflichen Arbeiter weniger anfällig für Krisen wie COVID-19 machen würden. Zu diesem Zweck wurden von Rom bis Mailand, von Neapel bis zum nordöstlich gelegenen Udine und überall auf der südeuropäischen Halbinsel eine Reihe von sogenannten Presìdi Cultural Permanenti (PCP) ins Leben gerufen.

Diese informellen Kollektive entwickelten weitsichtige Wohlfahrtsprogramme für Künstler, einschließlich eines Plans für kontinuierliche Stimmausbildung und Grundeinkommens-Regelungen. Die verschiedenen PCP wurden nicht nur gegründet, um die Wiedereröffnung der Theater zu fordern, sondern vor allem auch, um Druck auf die öffentlichen Institutionen auszuüben, damit diese den Wünschen und Bedürfnissen der prekär Beschäftigten des gesamten Sektors der darstellenden Künste nachkommen. Zudem entwickelte PCP Rom die Presìdi Culturali Permanenti Show, ein live-streaming Debattenformat, das Arbeiter, Gewerkschafter, Aktivisten und Theaterdirektoren zusammenbringt, um einen Plan für eine vollwertige Reform des Theatersektors in Italien zu diskutieren. Am 23. Februar erfolgten Proteste vor dem nationalen Parlament.

Auch in Frankreich, einem Land, in dem die Sozialleistungen für Kunstschaffende aus der Szene der darstellenden Künste solider sind und die Gewerkschaften einen besseren Einfluss auf die Arbeitskräfte haben, führten Kulturschaffende Anfang März erhebliche Proteste durch und forderten von der Regierung die Wiedereröffnung der Theatern und aller anderen Kultureinrichtungen. Die Proteste führten auch zu Besetzungen bekannter öffentlicher Theater.

„Die nationalen Regierungen übernehmen noch nicht genug Verantwortung, um Theatern und Kulturräumen eine sichere Wiedereröffnung zu ermöglichen. Dabei sind sie wichtige Orte der Arbeit und unerlässlich, um der Gesellschaft neue Perspektiven zu bieten. Sicherheitsmaßnahmen und kontrollierte soziale und kulturelle Zusammenkünfte sind der Schlüssel zur Wiedereröffnung der europäischen Gesellschaften“

Heidi Wiley

Ähnliche Ereignisse fanden Anfang 2020 in Großbritannien statt. Aber auch in Ländern, die einst zum sowjetischen Block gehörten, wie z. B. Slowenien, kam es wiederholt zu politischen Konflikten um Fragen im Zusammenhang mit den Bedingungen der Arbeitnehmer im Kultursektor und ganz allgemein um das Management von Kultureinrichtungen. Diese Debatte ist nicht nur auf den Alten Kontinent begrenzt. Auch jenseits des Ozeans gewann die Diskussion um die Notwendigkeit einer Reorganisation des Sektors an Dynamik. Auf Jacobin forderte Josephine Shetty, eine Lehrerin, Gewerkschaftsorganisatorin und Mitbegründerin der in den USA ansässigen Union of Musicians and Allied Workers, dass es für Musiker an der Zeit sei, sich kollektiv als Arbeitnehmer zu organisieren. Und in der Tat scheint dies überall in der KKI zu geschehen.

Diese Entwicklungen sind auch im Hinblick auf die wichtigsten Wege bedeutsam, die der EY-Bericht zum „Wiederaufbau“ der europäischen Kultur- und Kreativbranche aufzeigt. Dieser verweist einerseits auf eine massive öffentliche Finanzierung und die Förderung privater Investitionen in Kultur- und Kreativunternehmen, Non-Profit-Organisationen, Unternehmer und Kreative, und andererseits auf die Förderung eines soliden EU-weiten Rechtsrahmens, der private Investitionen in Produktion und Vertrieb beflügeln kann.

Wenn es jedoch um Geld und insbesondere um öffentliche Mittel geht, haben wir bereits gesehen, dass die nationalen Regierungen in den letzten Jahren die Mittel zugunsten des Kultursektors eher gekürzt haben. Glücklicherweise ist die EU Jahr für Jahr mit erhöhten Mitteln eingesprungen. Die Exekutivdirektorin der European Theatre Convention (ETC), Heidi Wiley, kommentierte das Ergebnis der im Dezember 2020 abgeschlossenen Verhandlungen über den Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) wie folgt: „Wir sind dankbar für die von der EU unternommenen Schritte zur Erhöhung der Mittel für Creative Europe (Kreatives Europa) als Teil des Mehrjährigen Finanzrahmens (MFR), mit einer Anhebung um 600 Millionen Euro auf insgesamt 2,2 Milliarden Euro. Im Vergleich zu dem im Zeitraum 2014-20 vorgesehenen Betrag ist dies eine Steigerung von 53 Prozent, die den Theatern und darstellenden Künsten mehr Möglichkeiten zum Wiederaufbau und zur Erholung bieten.“

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Allerdings wird es nicht ausreichen, mehr Geld in einen Sektor zu pumpen, der strukturell von prekären Arbeitsverhältnissen abhängig ist, auch nicht über EU-Kanäle. Wiley stimmt dem zu: „Es ist wichtig zu betonen, dass Europa keine nationalen Probleme lösen kann, indem es ad hoc eingreift, um Beschäftigungsstrukturen zu ändern oder diejenigen zu entschädigen, die ihre Arbeit verloren haben. Aber es gibt einen Fahrplan für Veränderungen: Zusammen mit 11 europäischen Kunst-Netzwerken haben wir einen Entwurf für den Weg in die Zukunft erarbeitet: Die sogenannte 'Dresdner Erklärung'. Diese enthält einen spezifischen Plan zur Wiederbelebung des Sektors, der sich auf verbesserte Arbeitsbedingungen, Projektionen für die freie Meinungsäußerung, ökologische Nachhaltigkeit, internationale Zusammenarbeit, die Rolle des Theaters als öffentlicher Raum für demokratischen Austausch und soziale Begegnungen und Vielfalt konzentriert.“

„Die nationalen Regierungen übernehmen noch nicht genug Verantwortung, um Theatern und Kulturräumen eine sichere Wiedereröffnung zu ermöglichen. Dabei sind sie wichtige Orte der Arbeit und unerlässlich, um der Gesellschaft neue Perspektiven zu bieten. Sicherheitsmaßnahmen und kontrollierte soziale und kulturelle Zusammenkünfte sind der Schlüssel zur Wiedereröffnung der europäischen Gesellschaften“, erklärt Wiley abschließend. In der Zwischenzeit ist die Mobilisierung, die an der Basis in den Mitgliedsstaaten stattfindet, wichtig, weil sie strukturelle Probleme aufzeigt, die über die Frage der Wiedereröffnung von Kulturstätten hinausgehen. Die Wiederbelebung kollektiver Aktionen in den Sektoren der darstellenden Künste zeigt, dass eine tiefgreifende Reform der KKI notwendig ist; zumindest für die Sektoren der darstellenden Künste und der Musikindustrie. Eine Reform, die allerwenigstens die bestehenden Sozialsysteme aufbricht und den Schutz auf die gesamte freiberufliche Arbeitnehmerschaft ausweitet. Die Show muss weitergehen. Aber vor allem muss es fair zugehen.  

👉 Lesen Sie den ersten Teil der Untersuchung 

Dieser Artikel wird in Partnerschaft mit dem European Data Journalism Network veröffentlicht.


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