Wie die Umwelt mithilfe von Fliegen, Würmern und der Evolutionstheorie geschützt wird

Um Tierversuche mit giftigen Chemikalien an Säugetieren so weit wie möglich einzuschränken, testen europäische Wissenschaftler toxische Substanzen im Rahmen des PrecisionTox-Projekts an Lebewesen wie Fliegen und Würmer.

Veröffentlicht auf 28 Oktober 2021 um 08:56

Wussten Sie, dass Fruchtfliegen 60% ihrer genetischen Abstammung mit dem Menschen teilen? Diese überraschende Tatsache könnte erheblichen Einfluss auf den Schutz der Gesundheit des Menschen und der Umwelt haben, aber zuerst „müssen wir einen ganzen Komplex an Ideen und Methoden ersetzen, beginnend damit wie wir Tiere in der Wissenschaft einstufen und verwenden um Toxikologie zu verstehen“ sagte Prof. John Colbourne von der Universität Birmingham. 

Während die Menschheit mit einer internationalen Pandemie konfrontiert ist, verursacht chemische Verschmutzung jährlich immer noch mehr als einen von zehn frühzeitigen Todesfällen weltweit. Risikobewerter bemühen sich darum diese Umweltgesundheitskrise zu adressieren. 

Die Bewertung der Sicherheit von Chemikalien beruht hauptsächlich auf Säugetierversuchen, die ein teurer, zeitaufwändiger und schmerzhafter Prozess sind. Seit Inkrafttreten der REACH Regulierung – das zentrale Rechtsinstrument der Bewertung und Regulierung von Chemikalien – belaufen sich in der Europäischen Union (EU) die Kosten der Registrierung von 22 683 Substanzen bisher auf 2,1 Mrd. Euro, sowie Millionen von Tierleben und mehrere Jahre pro Chemikalie um das komplette Begutachtungsverfahren abzuschließen. Es wird erwartet, dass sich die Produktion und Verwendung von Chemikalien bis 2030 verdoppeln wird, und es besteht die Gefahr, dass sich die Sicherheitsbewertung von Chemikalien mit der gleichen Geschwindigkeit entwickeln wird. 

Die Forschung hat allerdings gezeigt, dass Säugetiermodelle nicht zuverlässig genug darin sind Risiken für die Gesundheit des Menschen zu bewerten. Laut dem amerikanischen National Institute of Health (US-NIH) scheitern im pharmazeutischen Sektor 95% der Arzneimittel in klinischen Studien beim Menschen die zuvor effektiv in Tierversuchen getestet wurden. Interessanterweise kam die grundlegende genetische Information für eine Behandlung von Alzheimer vor einigen Jahren von … Fliegen.

Es ist unbedingt erforderlich, dass Alternativen zu Tierversuchen gefunden werden, die schneller, kostengünstiger sowie ethischer und präziser darin sind Gefahren für die Gesundheit des Menschen und der Umwelt zu bestimmen. Was, wenn die Lösung zur Beschleunigung und Verbesserung der Bestimmung der Chemikaliensicherheit darin liegt, Prinzipien und Wissen aus der evolutionären Biologie und Medizin anzuwenden?

Nichts in der Biologie ergibt einen Sinn, außer im Licht der Evolution“ sagte Theodosius Dobzhansky 1973, eine zentrale Figur in der Geschichte der Biologie.

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Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms, das alle vererbte Information enthält die den Code des Lebens bestimmen, hat mit der Weiterentwicklung der personalisierten Medizin eine Revolution im Gesundheitswesen angestoßen. Zudem ermöglichte es die Entwicklung von „NAMs“, was für „Nicht-Tier Methoden“ (engl. „Non-Animal Methods“) oder „Neuer Ansatz Methodologien“ (engl. „New Approach Methodologies“) steht. Diese bestehen unter anderem aus humanen Zellkulturen, biologischen rechnergestützten Techniken und humanen Organ-on-chips Technologien. Die Untersuchung von entfernt verwandten Model-Spezies, sowie Fliegen und Würmern, haben ein grundlegendes Verständnis wichtiger Aspekte der tierischen Biologie und menschlichen Gesundheit ermöglicht; der Fortschritt in Genetik und evolutionärer Ökologie kann jetzt genutzt werden um den schädlichen Einfluss von Umweltchemikalien auf den Menschen und Ökosysteme zu verstehen.

Prof. John Colbourne von der Universität Birmingham koordiniert ein Team von 108 Forschern in dem EU-geförderten Projekt PrecisionTox, welches die Grenzen zwischen Medizin, Toxikologie und Ökotoxikologie aufheben wird, um ein mechanistisches und evolutionäres Verständnis davon zu ermöglichen, wie Tiere durch Umweltchemikalien gestört werden, und dabei auf Experimente an Säugetieren verzichtet. 

Um das zu erreichen verwendet das Projekt menschliche Zelllinien und fünf Modellorganismen aus unterschiedlichen Bereichen unseres phylogenetischen Stammbaumes, die Gene mit uns Menschen teilen die wir alle von einem gemeinsamen Vorfahren geerbt haben: Fadenwürmer, Fruchtfliegen, Wasserflöhe und Embryonen von Fröschen und vom Zebrabärbling. Die Verwendung dieser „nicht-schmerzfähigen“ Organismen sind als NAMs akzeptiert da sie alle gemäß rechtlicher Standards nicht als Tierversuche gelten. 


Es ist unbedingt erforderlich, dass Alternativen zu Tierversuchen gefunden werden, die schneller, kostengünstiger sowie ethischer und präziser darin sind Gefahren für die Gesundheit des Menschen und der Umwelt zu bestimmen.


Trotz der offensichtlichen morphologischen Unterschiede sind viele der Mechanismen, die bestimmen wie ein Tier sich entwickelt oder seine zellulären und physiologischen Abläufe gesteuert sind, zwischen diesen Organsimen und dem Menschen in der Evolution konserviert worden. Der Fadenwurm C. elegans ist ein traditionelles Modell für die Bewertung von Effekten von Chemikalien auf das Wachstum, die Entwicklung und Genexpression von Tieren. Obwohl die evolutionäre Trennung des Menschen, Homo sapiens, und der Fruchtfliege, Drosophila melanogaster, vor ca. 780 Millionen Jahren passierte, sind ca. 75% der bekannten menschlichen Gene die an der Entstehung von Krankheiten beteiligt sind auch in der Fruchtfliege gefunden worden. Das macht sie zu einem wichtigen Modell für neurologische Krankheiten, Krebs oder auch Diabetes. 

Das Konsortium wird untersuchen, wie Gene und die Moleküle für die sie kodieren in den unterschiedlichen Spezies beeinflusst sind, wenn die Organismen Chemikalien in umweltrelevanten Konzentrationen ausgesetzt werden. Die Ergebnisse werden es ermöglichen die Mechanismen im Licht der phylogenetischen Abstammung zu identifizieren, die für die negativen Reaktionen auf die Chemikalienexposition verantwortlich sind. Die Ergebnisse werden dann mit Daten aus humanen Zelllinien und existierenden Datenbanken verglichen um die prognostizierten Risiken die von der Chemikalie ausgeht im Menschen zu bestätigen.

Kurze Reproduktionszyklen und Lebensspannen der gewählten Organismen gewährleisteten, dass über die Zeitspanne von wenigen Monaten nutzbare Ergebnisse entstehen, was eine dramatische Reduktion der aufgewendeten Zeit und Kosten bedeutet. Die Methodologie ermöglicht es weiterhin die Gene zu identifizieren, die dafür verantwortlich sind, dass Organismen gegenüber Chemikalien resistent oder empfindlich sind. Dies wird es ermöglichen eine genauere Definition der Limits für sichere Expositionslevel von Chemikalien zu bestimmen die auch die Variabilität innerhalb der Population, einschließlich des Geschlechts, mit einbezieht. Über die Projektlaufzeit von 5 Jahren wollen die 15 Partner 250 Chemikalien testen. Die entwickelten Methoden können anschließend für beliebige weitere Chemikalien und Tiere, den Menschen eingeschlossen, angewendet werden. Sie versprechen eine bessere Identifizierung, Regulierung und schlussendlich die Entfernung von gefährlichen Chemikalien aus Häusern, Nahrungsmitteln und der Umwelt.

PrecisionTox hat sich mit ONTOX und Risk-Hunt3r zusammengeschlossen, zwei weiteren EU-geförderten Projekten, und der entstandene ASPIS Cluster wird am 4. November mit einer öffentlichen Veranstaltung starten. Zusammengenommen repräsentiert der Cluster 70 Forschungseinrichtungen aus Europa und Nordamerika und verfügt über ein Budget von 60 Millionen Euro aus dem H2020 Programm. ASPIS wird eng mit dem EU Joint Research Center kooperieren um die Entwicklung und Validierung von NAMs inklusive der Bewertung von Chemikalien ohne Tierexperimente voranzutreiben und damit eine “schadstofffreie” Umwelt bis zum Jahr 2050 zu realisieren, so wie es im EU Green Deal festgelegt ist.  


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