Wird die EU wie Titos Jugoslawien enden?

Von Belgrad, Zagreb oder Sarajevo aus gesehen, besitzt die wirtschaftliche und institutionelle Krise der Union einen Hauch von Déjà-vu. Manches erinnert an die Zeit vor dem Zusammenbruch der von Tito gegründeten Föderation, schreibt die serbische Tageszeitung Politika. Auszüge.

Veröffentlicht am 5 Januar 2012 um 14:20

Die Europäische Union beginnt, relativ gesehen, in vielerlei Hinsicht an das Jugoslawien Titos zu erinnern. Gründe, das Unvergleichbare zu vergleichen, gibt es dieser Tage zuhauf. Ein Beispiel: Während die Europäische Union zentral die Kontrolle auf seine Außengrenzen zu stärken sucht, wachsen nationalistische Bewegungen sowie die Inkompatibilität zwischen den Mitgliedsstaaten und bedrohen die Grundfesten der Staatengemeinschaft. Wir haben ähnliches im Goldenen Zeitalter Jugoslawiens, zwischen 1981 und 1989 erlebt, als das Land kurz davor stand, der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) beizutreten.

Diese Parallele ist nicht die einzige. Berlin und Paris handeln, trotz aller Differenzen, wie einst Belgrad und Zagreb, als die tragenden Säulen der Union. Des Weiteren fliegen die Fetzen zwischen den finanziell verantwortungsvollen und den verschwenderischen Staaten, zwischen den mehr oder weniger entwickelten Ländern. Das alles ähnelt stark dem Prozess, der zum Zerfall Jugoslawiens führte.

Einheit, Brüderlichkeit und "Demokratiedefizit"

Das Konzept eines Europas der zwei (oder mehreren) Geschwindigkeiten erinnert an die Idee der "asymmetrischen Föderation" Jugoslawiens. Ebenso wie die Formel "Einheit und Brüderlichkeit der Völker Jugoslawiens" an die aktuelle Position Brüssels erinnert, das gemeinsame Interesse gehe vor Meinungsverschiedenheiten und Unterschiede.

Auch bei der Frage des Demokratiedefizits kann die Parallele gezogen werden: In Ex-Jugoslawien wurde die politische Führung aufgrund des Ein-Parteien-Systems nicht per allgemeinem Wahlrecht gewählt, ebenso wenig wie die hohen EU-Funktionäre — und dies trotz der Tatsache, dass sich die Union aus Ländern mit einem Mehrparteiensystem zusammensetzt. In beiden Fällen verhinderte die Angst vor der Dominanz der bevölkerungsreichsten Länder das Prinzip "ein Mensch — eine Stimme".

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Wir sollten auch bedenken, dass trotz aller konkurrierenden Interessen, die EU und Jugoslawien auf der Grundlage von Idealen geschaffen wurden, die man nicht von der Hand weisen kann: Kooperation ist wichtiger als Konfrontation, mit Freundschaft kann Feindschaft überwunden werden, um gemeinsam voranzukommen, muss man vergeben können, eine multikulturelle Gesellschaft — mag die Theorie des "Schocks der Zivilisationen" es auch anfechten — ist unvermeidlich.

Die entscheidenden Kompromisse wurden nicht gefunden

Doch in beiden Systemen gab es Rückschläge aus ähnlich gearteten Gründen. Das Prinzip der Einstimmigkeit und des Konsens provozierte eine Krise in der Entscheidungsfindung und blockierte die Union, wie ehedem in Jugoslawien. Weder die Europäische Union noch Jugoslawien haben einen Kompromiss zwischen Zentrum und Peripherie, Nationalismus und Internationalismus, Innen- und gemeinsamer Politik, sowie Schulden und Wachstum gefunden.

Der Zusammenbruch Jugoslawiens beruhte im Wesentlichen auf diesen Ungleichgewichten. Heute bemüht sich die EU, ein Balkan-Szenario zu vermeiden. Fern von mir die Idee, dass der Union ein ähnliches Schicksal wie Jugoslawien widerfahren könnte, denn ein Krieg in Europa ist unvorstellbar. Doch ist das nicht der einzige Grund. Auch jene, die ein Scheitern des Projekts Europa anstreben, wollen dessen Errungenschaften beibehalten: ein gewisses Gleichgewicht zwischen den Marktkräften und einen Gesellschaftsvertrag, wie es ihn zuvor noch nie gegeben hat. Deshalb streben schließlich auch wir Serben einen EU-Beitritt an — trotz aller Langsamkeit des Prozesses. (j-s)

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