"Vereint seit 1957", das Logo zum 50. Jubiläum des Vertrags von Rom.

Wo ist der Feind, der uns vereint?

Ein Feindbild ist das Beste, um eine kollektive Identität zu schaffen. Doch diese Lebensweisheit aus dem 19. Jahrhundert trifft auf die aktuelle Krise kaum zu. Nur wenn die Europäer ihr Verhältnis zur Macht ändern, können sie gemeinsam die Krise bewältigen, schreibt ein tschechischer Journalist.

Veröffentlicht am 17 November 2011 um 17:35
europa.eu  | "Vereint seit 1957", das Logo zum 50. Jubiläum des Vertrags von Rom.

Wer die Vergangenheit versteht, kann die Zukunft beeinflussen. In Anbetracht des derzeitigen Zustands der Europäischen Union scheint diese Paraphrase des Orwell-Satzes ["Wer Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Zukunft", Slogan der Partei in seinem Roman "1984"] überaus aktuell. In einer herzerfrischenden Analyse über die europäische Identität hat der Historiker Miloš Řezník während der Jahreskonferenz des Deutsch-Tschechischen Gesprächsforums in Passau Denkanstöße gegeben, wie Europa als wirtschaftliche, politische und kulturelle Einheit überleben kann.

Für unsere kollektive Identität zählt nicht nur das, was wir sind, sondern vor allem das, was wir nicht sind. So lautet im Wesentlichen die These des Professor Řezník, ausgehend von den Umständen der Entwicklung des modernen Nationalismus in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Das alte Gesellschaftssystem war gescheitert. Mit dem Konzept der bürgerlichen Gleichheit unterbreiteten die neuen Eliten den Menschen eine neue Form der Identifizierung mit der Nation. Im Laufe der Zeit entwickelte sich die nationale Identität zu einer potenziellen Konfliktquelle.

Schauen wir uns nun einmal die Rolle der europäischen Identität näher an. Sie ist ein Konstrukt, das sich kontinuierlich weiterentwickelt. Man darf sich aber die Frage stellen, ob diese Idee sich jemals wirklich durchsetzen wird. Woran mangelt es eigentlich, damit jene Menschen, die zumindest theoretisch davon ausgehen, dass sie einen gemeinsamen Raum und gemeinsame Werte teilen, eine kollektive Identität entwickeln? Ein starkes Gefühl der Bedrohung. Im Grunde mangelt es den Europäern an einem gemeinsamen Feind.

"Wir brauchen eine richtige Krise"

Versuch, diese These auf die Eurokrise anzuwenden: Griechenland ist pleite, Italien verliert Fuß, Frankreichs Bestnote ist bedroht, und im Hintergrund droht der Zusammenbruch der Eurozone. All dies reicht immer noch nicht, um die Menschen des Alten Kontinents zusammenzuschweißen. Selbst in dieser historisch beispiellosen Situation, der schlimmsten seit Beginn der europäischen Integration, sind die Europäer nicht fähig, oder vielleicht nicht bereit, sich einzugestehen, dass sie mehr Gemeinsamkeiten als Differenzen besitzen.

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Immer häufiger ist das Argument zu hören, dass die Integration der Europäischen Union entweder vorangetrieben, oder aber die Union zusammenbrechen wird. Doch eine stärkere Integration lässt sich nicht mit einer Änderung des Lissabon-Vertrags verordnen. Es braucht eine Krise. Eine echte, und tiefgreifende Krise. Wo aber ist der Feind, der die Europäer einen könnte?

Wer ist verantwortlich für die Erosion des Wohlstands, für die katastrophalen Staatshaushalte, für den Niedergang der Wettbewerbsfähigkeit? Handelt es sich lediglich um einen weiteren Fall der historischen Entwicklung von Aufstieg und Fall eines Imperiums, wie so treffend von den Historikern Paul Kennedy und Niall Ferguson beschrieben?

"Unsere Politiker führen uns in den Bankrott"

Reicht es, mit dem Finger auf irgendjemanden zu zeigen und die Verantwortung für die Schwierigkeiten Europas auf die Griechen abzuwälzen, die ihre Bilanzen geschönt haben? Oder auf die überschuldeten Italiener? Oder muss man über die Grenzen hinausgehen und beispielsweise den Staatskapitalismus Chinas oder Indiens Billiglöhne anprangern? In einer globalisierten Ökonomie ist es ratsam, alte nationale Kategorien und Ideologien in die Abstellkammer zu stecken. Man sollte sich auf eine ganz andere Kategorie von Personen konzentrieren, um die europäische Identität zu stärken und den früheren Wohlstand für die Menschen des Alten Kontinents wieder herzustellen: nämlich auf die politische Klasse, welche weder fähig noch gewillt ist, über ihr Mandat hinaus zu denken und die eine Sprache pflegt, die an den Bedürfnissen der Normalbürger vorbeigeht. Eine Klasse, die sich weigert, Macht abzugeben und ihre Länder an den Rand des Bankrotts führt.

Durch traumatische Erlebnisse sind oftmals schon Gefühle nationaler Zugehörigkeit entstanden. Professor Řezník meint, dass die europäische Identität eine schwere Krise, einen Überlebenskampf braucht, um weiter zu bestehen. (j-s)

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