Wozu einen Facebook-Account?

Obwohl sich die Esten als ein vernetztes Volk verstehen, zeigen Statistiken, dass nur ein Drittel der Bevölkerung einen Account beim berühmten sozialen Netzwerk hat. Die anderen zwei Drittel finden, dass das Privatleben privat bleiben soll.

Veröffentlicht am 28 Mai 2012 um 10:04

Vor einiger Zeit diskutierte der estnische Alpinist Alar Sikk, der dadurch berühmt wurde, den Mount Everest erklommen zu haben, mit seinem im estnischen Fernsehen bekannten Freund Vahur Kersna über seine Expedition zum Berg Kazbek [in Georgien].

Sikk erzählte, dass eine geraume Anzahl von Expeditionsteilnehmern das Projekt fallen ließ, als deutlich wurde, dass die Reise neun Tage dauern würde. Allein der Gedanke, so lange ohne Facebook auskommen zu müssen, schien ihnen unerträglich.

Fans des sozialen Netzwerkes werden sicherlich erfreut sein, diese Zeilen zu lesen! Denn es bedeutet, dass die Welt ihnen gehört, und dass der Trubel, der durch den Börsengang der Firma ausgelöst wurde, gerechtfertigt ist. Und dass ein Leben ohne Facebook unmöglich ist.

Esten „liken“ das wahre Leben

Der estnische Schriftsteller Andrus Kivirähk hat bis jetzt noch keinen Drang verspürt, ein Konto auf Facebook zu erstellen. Es ist ihm auch recht egal, ob die meisten seiner Freunde, von seinen Kindern ganz zu schweigen, ein Konto haben.

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„Ich hätte nicht den Mut dazu, so ausführlich im Internet zu kommunizieren“, gibt Kivirähk zu. „Ich bin schon gut genug erreichbar, denn alle kennen meine Handynummer und außerdem habe ich mehrere Mailadressen”. Außerdem wolle er gar nicht wissen, so Kivirähk, was irgendwer zu irgendeinem Zeitpunkt isst.

Er möchte auch nicht, dass Facebook seine Freunde an seinen Geburtstag erinnert: „Ich finde es schöner, wenn mich ein Freund direkt anruft oder mir eine Geburtstagsnachricht schreibt. Das ist viel intimer und herzlicher”, fügt Kivirähk hinzu.

Trotz des Medienhypes um Facebook haben diejenigen, die kein Konto beim Netzwerk besitzen, keinen Grund, sich ausgeschlossen oder in der Minderheit zu fühlen. Ganz im Gegenteil: Sie sind in der Überzahl. Auf der Statistikseite von Facebook kann man lesen, dass es in Estland 460 000 Benutzer gibt [auf 1,3 Millionen Einwohner].

Dies entspricht nur einem Drittel der gesamten Einwohner. Selbst diese Zahl könnte eventuell übertrieben sein, denn manche Namen führen mehrere Konten.

Starrsinn gegenüber sozialen Netzwerken

Der Fernsehmoderator Vahur Kersna hat noch nie daran gedacht, seinen Namen und sein Gesicht auf Facebook zu bringen. „Ich möchte nicht jederzeit erreichbar sein”, erklärt er. „Mit denjenigen, mit denen ich kommunizieren will, telefoniere ich oder ich sehe sie persönlich.“ Das in dieser Ablehnung ein gewisser starrsinniger Konservatismus liegt, räumt er ein.

Eigentlich würde Kersna mit seinen rund fünfzig Jahren statistisch nicht als ein aktiver Nutzer erfasst werden. Mehr als zwei Drittel, die bei Facebook in Estland ein Konto haben, sind jünger als 34 Jahre alt.

Kivirähk gibt sogar zu, dass seine Kinder „die Erwachsenen dort seltsam finden. Für sie ist das ein bisschen sonderbar.“ Reet Hääl, Vorstandsvorsitzende der Vereinsunion estnischer Vermieter, ist erstaunt: „Ich bin immer wieder aufs Neue verwundert, wie viel Zeit die Leute damit verbringen,“ sagt sie.

„Und ich frage mich, warum sie ihr Leben mit allen teilen wollen”. Hääl möchte nicht, dass man alles über sie weiß und sieht auch nicht den Sinn darin, über Dinge zu diskutieren, die zum Großteil nicht diskutierwürdig sind. Sie braucht kein „Gefällt mir“ von tausenden von Freunden: „Ich bin kein Hundert-Dollar-Schein, den jeder mag!”

Keine Zeit zum „posten“

Den Statistiken von Facebook zufolge ist die Verbreitung des Netzwerkes in Estland in den letzten drei Monaten zum Stehen gekommen. Einige haben auch ihr Konto aufgelöst. Toomas Pindis ist hoher Polizeibeamter beim Grenzschutz. Er verließ Facebook, denn es wurde für ihn zu beschränkend und unsicher.

All die Einladungen, Werbungen, die Verpflichtung, sich jede Stunde einzuloggen, die Viren und Spam führten zu der Entscheidung, mit allem aufzuhören! „Ich habe keine Zeit zum Posten, und an meinem Arbeitsplatz im Übrigen auch nicht das Recht.

Bei meiner Arbeit muss ich korrekt sein, daher ist es besser, sich von Facebook fern zu halten“, so Pindis.

Obwohl sich Estland gern als eine „e-Regierung” darstellt, haben viele Minister, so wie ihr Ministerpräsident Andrus Ansip, der Finanzminister Jürgen Ligi oder der Verteidigungsminister Urmas Reinsalu kein Facebook-Konto.

Die Idee, eine Seite für den Ministerpräsidenten zu erstellen, wurde schon häufiger diskutiert, doch der Kommunikationsbeauftragten der Regierung zufolge, verfügt die Regierung über ausreichend anderer Mittel, um mit ihren Bürgern zu kommunizieren. (SD)

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