Ideen Die Deutsch-Französische Versammlung

Eine einzigartige Gelegenheit für Steuergerechtigkeit in Europa

Anlässlich der 3. Sitzung der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung wurde die Einrichtung einer Arbeitsgruppe zur Steuergerechtigkeit diskutiert. Dies könnte ein mächtiger Hebel sein, um die steuerliche Sperre der EU zu umgehen, und mehr steuerliche und soziale Gerechtigkeit in Europa zu erreichen.

Veröffentlicht am 24 Februar 2020 um 08:57

Am 5. und 6. Februar 2020 fand in Straßburg im Plenarsaal des Europäischen Parlaments die dritte Sitzung der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung statt. Dieser Ort besitzt eine besondere symbolische Aussagekraft, denn, wie Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble betonte, muss die neue Versammlung über ihre bilaterale Dimension hinaus einen tatsächlichen Vorbildcharakter für die gesamte Europäische Union haben. 

Diese aus 50 französischen und 50 deutschen Parlamentariern bestehende Versammlung wurde geschaffen, um die Zusammenarbeit zwischen den beiden größten Staaten der Europäischen Union zu institutionalisieren. So wurde sie zum parlamentarischen Pendant des durch den Elysée-Vertrag vom 22. Januar 1963 eingerichteten deutsch-französischen Ministerrats. Sie muss die Anwendung des Vertrags von 1963 sicherstellen, sowie jene des am 22. Januar 2019 von Emmanuel Macron und Angela Merkel unterzeichneten deutsch-französischen Kooperations-Vertrags von Aachen.

In Artikel 1 dieses Vertrages heißt es: „Beide Staaten vertiefen ihre Zusammenarbeit in der Europapolitik […] und wirken auf eine wettbewerbsfähige, sich auf eine starke industrielle Basis stützende Union [hin], als Grundlage für Wohlstand. [Sie] fördern die wirtschaftliche, steuerliche und soziale Konvergenz sowie die Nachhaltigkeit in allen ihren Dimensionen.“

Diese rhetorische Figur hat sich bei den Verfassern der Europäischen Verträge gut etabliert: „Wettbewerbsfähigkeit“. Zunächst, „wirtschaftliche, steuerliche und soziale Konvergenz und Nachhaltigkeit“. Anschließend die Reihenfolge der Prioritäten der Union seit dem Vertrag von Maastricht. Dies ist zweifellos der Grund dafür, warum das Projekt, das dieser Versammlung spontan am meisten am Herzen zu liegen scheint, in der Einrichtung einer Arbeitsgruppe zur „Harmonisierung des französischen und deutschen Wirtschafts- und Insolvenzrechts“ bestand, um „die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Volkswirtschaften angesichts des zunehmenden Wettbewerbs auf globaler Ebene zu verbessern“. Gleichzeitig hatte die Einrichtung von Arbeitsgruppen zur steuerlichen und sozialen Harmonisierung zwischen Frankreich und Deutschland, die insbesondere von Fabio de Masi (Die Linke) und Danièle Obono (La France Insoumise) unterstützt wurde, leider keine Mehrheit erhalten.

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Dieser Entwurf eines Europäischen Unternehmensgesetzbuchs, der in der Tat unter Experten und spezialisierten Rechtsprofessoren bereits weit fortgeschritten ist, und für den der parlamentarische Mehrwert eher fraglich erscheint, scheint jedoch bei weitem nicht der Größe der Herausforderungen gerecht zu werden, vor denen die Union heute steht. In einer Zeit, in der soziale Ungleichheiten und Umwelt-Notstände die letzten Leitplanken der westlichen Demokratien zerschlagen, erinnert die Betonung dieses Projekts an eine Art business as usual des Binnenmarktes der 1990er Jahre und seiner wichtigsten Gewinner.

Ganz im Gegenteil sollte die Schaffung dieser deutsch-französischen Versammlung, eines regelrechten „normativen Labors“, die Gelegenheit sein, eine vollständige Wende der gewohnten Hierarchien der Europäischen Union vorzunehmen. Sie trägt die Legitimität der nationalen parlamentarischen Versammlungen in unseren Demokratien, und zwar bezüglich der Fragen der Besteuerung und des Sozialrechts. Letztere sollten endlich an die Spitze ihrer Aufgabenliste gesetzt werden, um den Dringlichkeiten, die unsere Gegenwart herausfordern, gerecht zu werden, und das Gleichgewicht des ersten Artikels des Aachener Vertrags wortgetreu zu respektieren. In der Tat kann eine solche Versammlung so den ursprünglichen Mangel des europäischen Aufbauwerks ausgleichen, indem sie die Sperre der Einstimmigkeit der Mitgliedstaaten im Bereich der Besteuerung lockert. Mit unterschiedlichen politischen Mehrheiten würde sie dann tatsächlich eine „Utopie“ darstellen, wie Richard Ferrand behauptet, aber in einem anderen Sinne als die „verfrühte Wahrheit“, auf die er sich mit seinem Lamartine-Zitat beruft. Vielmehr wäre es Erik Olin Wrights „reale Utopie“, d.h. eine Institution oder Praktiken, die hier und jetzt aufgebaut werden können, und die einen Vorgeschmack auf eine ideale Welt geben, und uns so helfen, über das gegenwärtige Stadium der Europäischen Union hinauszugehen.

Denn diese in der Geschichte beispiellose Versammlung ist dadurch legitim, weil sie z.B. eine deutsch-französische Angleichung der direkten Unternehmensbesteuerung vorschlägt, die das Europäische Unternehmensgesetzbuch ergänzen würde. Davon träumt die Europäische Union seit den 1960er Jahren! Mit dieser Angleichung der deutsch-französischen Unternehmensbesteuerung besteht die Herausforderung in nichts weniger als darin, den Teufelskreis des Steuer- und Sozialdumpings zu durchbrechen, der die Union seit Mitte der 1980er Jahre untergräbt. Es geht darum „innerhalb der Europäischen Union auf eine soziale und wirtschaftliche Aufwärtskonvergenz hinzuarbeiten“, wie es die Präambel des Vertrags  von Aachen vorschlägt. Dies ist einer der Schlüssel zur Bekämpfung der steuerlichen und sozialen Ungleichheiten, die den Zusammenhalt unserer europäischen Gesellschaften brechen, indem sie mit den ihnen zugrunde liegenden moralischen Ökonomien kollidieren, und populistische und autoritäre Proteste nähren.

Ebenso sollte eine Arbeitsgruppe der Versammlung über die Einführung einer Steuer auf sehr große Vermögen eingesetzt werden, und zwar zu einer Zeit, in der auf der anderen Seite des Rheins eine erbitterte Debatte geführt wird, welche von der SPD (einschließlich Bundesfinanzminister Olaf Scholz) sowie der OECD öffentlich unterstützt wurde. Zudem zeigte eine kürzlich durchgeführte Umfrage von Die Welt, dass 58% der Deutschen für die Einführung einer Steuer auf sehr große Vermögen sind. Denn mit dieser deutsch-französischen Versammlung entsteht ein ziemlicher Dominoeffekt, der das hitzige und eindeutige Streben nach den niedrigsten Standards umkehrt. Zudem ist die kritische Größe der mehr als 50% des BIP der Eurozone, die durch die gekoppelten Volkswirtschaften des deutsch-französischen Motors repräsentiert werden, in der Lage, diese steuerlichen Fragen in den Mittelpunkt der europäischen Politik zu stellen, sowie andere unserer europäischen Partner zu ermutigen, sich der positiven Spirale einer vorteilhafteren und gerechteren Besteuerung anzuschließen.

Die so erzielten Einnahmen könnten es ermöglichen, - wie wir bereits in unserem Manifest für die Demokratisierung Europas (www.tdem.eu) argumentiert haben -, einen Pool europäischer Gemeinschaftsgüter zu schaffen, der durch langfristige Investitionen wie Universitäten und Forschung, Energieumstellung, oder alle deutsch-französischen oder europäischen Projekte finanziert wird, welche die Versammlung identifizieren würde, und die am Ende des Sparprogramms wieder auf der Tagesordnung der deutschen Regierung zu stehen scheinen.

Zu einer Zeit, in der sich die Europäische Union wieder einmal auf die Einberufung einer Konferenz zur Zukunft Europas vorbereitet, könnte die Versammlung den Weg für einen politischen Neuanfang ebnen... wenn sie beschließen würde, wieder von den sozialen und steuerlichen Notfällen der Unternehmen auszugehen, deren Vertreter sie sind, und sich nicht nur von den alten europäischen Martingale-Spielen zu inspirieren.

Nach Wolfgang Schäuble und der Unterzeichnung der parlamentarischen Vereinbarung sind wir nun an der Reihe, die 100 deutschen und französischen Parlamentarier – die Pioniere dieser neuen Versammlung – zu ermahnen, zumal sie diesseits des Rheins so sehr in Verruf geraten sind und verspottet werden: „Nehmen Sie den Fehdehandschuh auf!“

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