In den Köpfen der Ungarn ist es schwierig, die große Solidarität mit den Geflüchteten aus der Ukraine – von denen bis zum 11. April mehr als 400.000 in Ungarn eintrafen – und die massive Anti-Migrations-Propaganda in Einklang zu bringen, die von der Regierung Viktor Orbáns seit 2015 ins Extrem gesteigert wird. Im Folgenden betrachten wir, wie sich das vor Ort konkret zeigt.
Unabhängige zivilgesellschaftliche Gruppen, NGOs und Mitglieder der örtlichen Gemeinschaften ziehen in Ungarn alle Register, um den Ukrainer*innen zu helfen, die vor dem Krieg in ihrem Land fliehen. Die ungarischen Behörden sind unterdessen zu langsam und zu schlecht ausgestattet, insbesondere angesichts der Tatsache, dass die soeben wiedergewählte Regierung möglichst viele Geflüchtete anziehen will, um einen maximalen Anteil an der von der EU für diese vorgesehenen Notfinanzierung zu erhalten.
„Wir sind hier in absoluter Sicherheit, wir haben eine Unterkunft. Wir kommen aus Kyiv. Viele Menschen haben ihre Wohnungen verloren und wissen nicht weiter. In der Ukraine sprechen viele kein Englisch, wir erwarten die Geflüchteten deshalb hier, damit sie nicht verloren sind. Wir sind am 16. März angekommen und wurden von Freunden vom Bahnhof abgeholt. Wir werden von Einheimischen unterstützt, aber viele kennen hier niemanden. Sie sind verloren, und deshalb sind wir hier,“ sagt Tanja, ein Mädchen aus der Ukraine, das von ihrer Mutter begleitet wird (die Namen wurden auf ihren Wunsch geändert) im improvisierten Empfangszentrum im BOK-Stadion in der Nähe des Ostbahnhofs in Budapest.
Im Gespräch mit Voxeurop sagten Tanja und ihre Mutter, dass sie auf dem Weg zum Ostbahnhof seien, um dort als freiwillige Dolmetscherinnen zu helfen. Dann erfuhren sie aber, dass jetzt alle Geflüchteten ins BOK-Stadion gebracht werden. Der Ostbahnhof war zum Hauptankunftspunkt für Geflüchtete geworden, wo Dutzende Helfer*innen sich um Unterstützungsbedürftige kümmerten, da es so gut wie keine Koordination zwischen den Behörden und den Initiativen der zivilen Gesellschaft gab. So sah die Situation aus, bevor die Regierung Viktor Orbáns, die am 3. April zum vierten Mal in Folge gewählt wurde, erkannte, welche (finanzielle) Gelegenheit sich dem Staat bot, wenn er Unterstützung bereitstellte.
Seitdem behauptet die ungarische Regierung fälschlicherweise, dass das Schreiben von Ministerpräsident Orbán die Europäische Kommission veranlasst hatte, aufgrund der Situation in der Ukraine REACT-EU Notfinanzierung zur Verfügung zu stellen. Noch im letzten Jahr hatte die Fidesz-Regierung Mittel aus diesem Fonds abgelehnt; sie argumentierte, dass die Bedingungen nicht akzeptabel seien.
Dann machte sie plötzlich eine Kehrtwende: Am 18. März beantragte der Ministerpräsident in einem Schreiben an die Europäische Kommission, die RRF-Mittel und Kredite für Ungarn freizugeben; er argumentierte mit dem Zustrom ukrainischer Asylsuchender. Die EU verweigerte das in ihrer Antwort und bot 300 Millionen Euro aus den REACT-EU-Fördermitteln für Krisenbewältigung an.
Seit dem Schreiben von Ministerpräsident Orbán hat sich der Umgang der Regierung mit den aus der Ukraine Geflüchteten geändert.
Am Ostbahnhof (Keleti Pályaudvar) aktivierten sich unzählige selbstorganisierte Freiwilligengruppen und humanitäre NGOs, die an improvisierten Ständen und Schaltern kostenlos Verpflegung, Getränke, Windeln, WLAN, Übersetzung und Reisetipps zur Verfügung stellten.
Wer bereits über die Grenze zur Ukraine nach Ungarn eingereist ist und sich registriert hat, kann einen kostenlosen Fahrschein („Solidaritätsfahrschein“) erhalten. Spezielle Züge bringen die Menschen zum Bahnhof Kőbánya-Felső am Stadtrand von Budapest, von wo aus kostenlose Shuttle-Busse zum BOK-Stadion fahren.
Seitdem die Regierung ihre Vorgehensweise änderte, dürfen nur noch sorgfältig ausgewählte NGO im BOK-Stadion helfen. Freiwillige, die nicht registriert sind, werden abgewiesen. Der Staat stellt so gut wie keine Unterkünfte zur Verfügung. Es gibt nur auf freiwilliger Basis angebotene Privatunterkünfte.
Das unabhängige Unterstützungsnetzwerk, das unter der Aufsicht der ungarischen Katastrophenschutzbehörde Katasztrófavédelem für fast alle Aufgaben zuständig ist, soll von den Regierungsbehörden übernommen worden sein, deren Effizienz äußerst fragwürdig ist.
Im Gegenzug für die REACT-EU-Mittel sollen die Regierungen in der Richtlinie über vorübergehenden Schutz aufgeführte Leistungen erbringen. Dort ist von Zuständigkeiten wie grundlegender Verpflegung und Unterkunft, aber auch von sozialen Leistungen wie bei Bedarf psychologischer Unterstützung, Kinderpflege (Krippen und Kindergärten), Gesundheitsleistungen usw. die Rede.
Viktoria Horvath von der NGO Migration Aid teilt Voxeurop jedoch mit, dass die oben aufgeführten Leistungen – und mehr – bisher leere Versprechen der Behörden bleiben und die Hilfe nach wie vor größtenteils von den NGO und der Zivilgesellschaft bereitgestellt wird.
Mukics Dániel von der Katastrophenschutzbehörde Katasztrófavédelem erklärte in einer schriftlichen Antwort auf unsere Fragen klar, dass die Behörde täglich rund um die Uhr vor Ort sei, sich um Unterkunft und Transport bemühe und Unterstützung organisiere. Allerdings weist der Behördenvertreter nicht darauf hin, dass die Unterkünfte von privaten Unternehmen und NGOs zur Verfügung gestellt werden, da es keine offiziellen Unterkünfte gibt, und dass es diese Situation Menschenhändlern erleichtert, nach verwundbaren Personen, besonders jungen Frauen, Ausschau zu halten. Viktoria Horvath von Migration Aid bestätigt, dass Menschenhandel eine äußerst reale, zunehmende Bedrohung darstellt und dass es eben wegen der privaten Unterbringung der Geflüchteten so schwierig ist, dieses Problem zu beheben.
Damit verbunden ist auch das Problem, wie die ungarischen Behörden die Zahl der Menschen ermitteln, denen sie geholfen haben. Am 16. März gab die nationale ungarische Bahngesellschaft MÁV bekannt, dass mehr als 100.000 Solidaritätstickets zur Verfügung gestellt wurden. Die ungarischen Behörden haben jedoch zwischen dem Anfang des Krieges und dem 5. April nur 11.000 Anträge auf Aufenthaltsgenehmigungen bearbeitet.
Das wird vor allem damit erklärt, dass zahlreiche Ukrainer*innen nur durch Ungarn durchreisen, meistens nach West- oder Nordeuropa. Die Regierung in Budapest verschweigt dieses wichtige Detail. Darüber hinaus werden Anträge auf Aufenthaltsgenehmigungen nicht automatisch registriert und akzeptiert – wie vom zuständigen EU-Sprecher empfohlen – sondern nur, wenn die Geflüchteten dies ausdrücklich beantragen. Im Nachbarland Österreich ist das beispielsweise ganz anders.
Das alles zeigt, dass die Regierung wohl versucht, die Zahl der Menschen, die über die Grenze zu Ungarn in die EU einreisen, künstlich aufzublasen, und zwar aus einem einfachen Grund: Opportunismus.
Die Orbán-Regierung verteufelte jahrelang die überwiegend afghanischen, syrischen und irakischen Geflüchteten, die an die ungarischen Grenzen kamen, und führte seit dem Höhepunkt der Migrationskrise im Jahr 2015 einen umfassenden Kommunikationskrieg. Mit einer derartigen Täuschungskampagne hätte sie diesmal wohl keinen Erfolg, denn die Geflüchteten sind hellhäutig und es handelt sich um Christen aus einem angrenzenden Land. Darüber hinaus gehören Zehntausende von ihnen einer Ungarisch sprechenden ukrainischen Minderheit aus dem Grenzgebiet an, das die Ungarn „Kárpátalja“ nennen – „Zakarpattia Oblast“ auf der anderen Seite der Grenze zum Schengen-Raum.
Daher hat sich die Regierung Viktor Orbáns dieses Mal für eine andere Strategie entschieden, die im Einklang mit der augenscheinlichen Politik der EU steht, eine große Zahl an Kriegsgeflüchteten aus der Ukraine aufzunehmen. Es muss darauf hingewiesen werden, dass die Behörden sich sehr bemühen, die ukrainischen Asylsuchenden von „den anderen“ zu trennen, die nach Ungarn kommen. Vertreter der zivilen Gesellschaft teilten Voxeurop mit, dass in der Stadt Debrecen, in 30 km Entfernung von der Grenze zur Ukraine, ein großes Aufnahme- und Beherbergungszentrum für Asylsuchende geschlossen wurde, seitdem die Regierung illegale Aufnahmezentren an der Grenze errichtet hat, die trotz eines Beschlusses des Europäischen Gerichtshofs immer noch in Betrieb sind.
Dorthin werden keine Geflüchteten aus der Ukraine geleitet. Informationen von allen NGOs und Vertretern der Zivilgesellschaft zufolge, mit denen wir gesprochen haben, werden Unterkünfte für ukrainische Kriegsgeflüchtete trotz der verfügbaren Kapazität in den Aufnahmezentren fast ausschließlich durch private und zivilgesellschaftliche Organisationen zur Verfügung gestellt. Die politische Motivation, die hinter dieser künstlichen Unterscheidung zwischen hilfsbedürftigen Menschen steckt, ist nicht schwer zu verstehen.