Agim Sulaj

Lieber Arnon, wir im Süden betrachten Europa wie Voyeure in einem Swingerclub

In seiner Antwort auf den Brief, in dem der niederländische Schriftsteller Arnon Grunberg Europa mit einem „Swingerclub“ vergleicht, erinnert sein französisch-algerischer Kollege Kamel Daoud daran, dass unser Kontinent trotz aller Mängel und der kolonialen Vergangenheit weiterhin ein Modell für die Demokraten der „südlichen“ Länder darstellt.

Veröffentlicht am 3 Juni 2023

Lieber Arnon,

auf die Gefahr hin, Vertrautheit zu erzwingen oder vorzutäuschen, mit Unbekannten über ein zu weit gefasstes Thema gemeinsame Ideen zu haben, hat mich die Metapher von Europa als „Swingerclub“ aus mehreren Gründen begeistert.

Ich möchte Folgendes vorausschicken: Wenn man in der Welt lebt, die ihr „arabisch“ nennt, erlebt man die Verwechslung zwischen sexueller Freiheit und Freiheit allgemein, die wir mit Europa in Verbindung bringen, am eigenen Leib, und zwar sehr heftig. In der sogenannten arabischen Welt wird mit frei sein manchmal weniger in Verbindung gebracht, frei wählen zu können, als einen geliebten Menschen in der Öffentlichkeit auf den Mund zu küssen.

Die Islamisten in unseren Regionen haben sich im Übrigen sehr schnell kulturelle Missverständnisse zunutze gemacht, um die Sympathie der Konservativen, Machos und Patriarchate zu gewinnen. Erotische Freizügigkeit, Unzucht, Sünde, das Böse und die moralische Auflösung erscheinen als Früchte der liberalen Demokratie, wenn nicht sogar als die liberale Demokratie selbst; das Heil liegt folglich darin, sich davor zu bewahren: es kommt von Gott, von der Diktatur.

Der zweite Grund, warum mir die Metapher gefällt, ist, dass man in einem Swingerclub mitunter Voyeuren begegnet: eine einsame Spezies, die voranschreitet und beobachtet, ohne etwas zu sagen, körperlose Zeugen der Körper der anderen. So habe ich mich immer betrachtet, wenn ich in den Westen reise: als Voyeur der europäischen Demokratie, dem es verboten ist, sie zu berühren – als Ästhet, Bewunderer, Einzelgänger.

Grobe Nähte

Ich gebe dir recht: Man muss anderswo als in Europa leben, um Europäer*in zu werden, davon zu träumen und diesen Zustand zu definieren. Und dieses Anderswo kann Amerika sein. Aber Europa lässt sich am besten definieren, wenn man in einer Diktatur lebt. Von hier aus, aus diesem toten Winkel, kann man die europäische

Demokratie identifizieren, ein wenig als Standard, als Kontrast also. Dazu muss man die Analyse mit einer gewissen Naivität und Leichtigkeit und unter Verwendung von Abkürzungen durchführen. Das ist die Voraussetzung, um an die Demokratie zu glauben: Wenn man sie aus zu großer Nähe betrachtet, bemerkt man ihr Gewebe, natürlich die Unvollkommenheiten, die groben Nähte sozusagen.


ine der größten Bedrohungen für Europa wäre es, wenn man diesen bedeutenden Ort nicht mehr begehren würde


Sind diese Vorbehalte gegen die europäische Demokratie wichtig, wenn man in einer Diktatur überlebt? Nein. In der sogenannten „arabischen“ Welt existiert Europa daher, und auch seine Demokratie: Es ist definitiv das, was man selbst nicht besitzt. Das, was man fordert oder nachahmt. Es ist auch das, was wir ablehnen – im Namen unserer Identität, für die auch Zurückgezogenheit und das Recht auf Anderssein nach den Entkolonialisierungen eine Rolle spielen. Ein Entkolonialisierter wird immer empfindlich bleiben, und sein Misstrauen ist das eines Überlebenden.

Dies ist eine grobe, naive, ein wenig betrügerische Theorie, denn sie schließt die Debatte, die zwischen uns geplant ist. Aber sie ist auch wesentlich, um Maß zu halten. Ich gebe mich mit diesem Traum von Europa zufrieden. Der Rest meiner Vorbehalte wird später kommen, wenn ich eine Zukunft ergattere. Und was meine Zweifel betrifft, so verwende ich sie lieber in der Literatur als für endgültige Definitionen.

Voyeur im europäischen Swingerclub

Warum ist die Demokratie, die ich als Voyeur in diesem Club beobachte, wichtig? Wichtig ist sie aufgrund des Gesetzes der Konsequenzen: Wenn die Demokratie in Europa schwächer wird, durch Exzesse in Frage gestellt wird, aufgrund der internen barbarischen Invasionen der Populisten nachlässt, dann stärkt das für mich die Diktatur, den Autoritarismus und entwertet das Ideal der Demokratie. Unsere Diktatoren haben diese Abkürzung zum Spektakel Europas gut genährt: „Demokratie? Das ist Chaos, seid vorsichtig mit euren unvorsichtigen Wünschen, wiederholen sie ständig.

Ein wenig ungerecht, ein wenig wie ein Prediger, wiederholte ich oft in Vorträgen an Europäer*innen, dass „ihre Kompromittierungen unsere Katastrophen sind. Ich warnte vor der Bedeutung der europäischen Demokratie und vor dem, was über ihre Geographie, ihre Grenzen hinausgeht. Ich sprach von Islamismus, der durch koloniale Schuldgefühle gefördert wird, von Populismus, angeheizt durch die Sehnsucht nach einer exklusiven Identität. Das ist rhetorisch übertrieben, hat aber den Vorteil, brutal zu wirken und verantwortlich zu machen: Die europäische Demokratie ist eine Notwendigkeit, die über sie hinausgeht.


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Natürlich treibt uns auch der Rest um: Bleibt die Demokratie eine westeuropäische Exklusivität? Kann sie durch Anlandungen oder NGOs exportiert werden? Ist sie eine lokale Geschichte oder eine trügerische Universalität? Handelt es sich um eine kulturelle oder menschliche Besonderheit? In der sogenannten „arabischen“ Welt sind wir ständig auf der Suche nach Definitionen und grenzen uns in Kasten ab. Am Ende entscheidet man sich oft für das Exil. Denn es ist besser, in einer schlecht definierten Demokratie zu leben als in einer Diktatur, in der man sich damit abmüht, die Demokratie zu definieren.

Zu viel Demokratie?

Die Demokratie weiß sich nicht zu verteidigen, sagte mir eine tunesische Freundin immer wieder: Das sieht man in Europa. Ich sehe es: Ein seltsames Paradoxon, bei dem das Ziel eines Landes voller Annehmlichkeiten darin besteht, durch allgemeines Nachgeben ein Gleichgewicht der Kräfte zu erreichen.

Auch die folgende Frage ist offensichtlich: Schadet zu viel Demokratie der Demokratie? Ich würde es nicht laut sagen, aber ich lebe im „Süden“ und darf mich daher empören: Wenn ich die Nachrichten über „Selfie-Aktivisten“ durchforste, die das Recht der Mücken verteidigen, uns zu stechen, die Van-Gogh-Gemälde mit Tomaten beschmieren oder ihre Handflächen auf Motorhauben von Autos kleben, um die Welt zu retten, frage ich mich, ob zu viel Demokratie nicht der Demokratie schadet.

Die dritte offensichtliche Tatsache? Ich denke, dass ich Anspruch auf mindestens ein Zitat habe. Hier ist es: es stammt von Jorge Luís Borges. In einem seiner Gedichte sagt er: „Wer das Meer betrachtet, sieht England“. Der Verdichtungseffekt wirkt genial und ruft sofort Träumereien hervor: das Imperium, Weite, England, Abenteuer, alle gebauten Schiffe, Seemannsknoten und das Ende der bekannten Welt. Ein ganzes Land definiert sich durch die Aufhebung seiner Grenzen. Alles fügt sich im Meer ineinander und löst sich in ihm auf. Endlich einmal stellen zwei verschiedene Dinge, das Meer und England, das Gleiche dar und bleiben doch zwei verschiedene Dinge.

Unbewusste Demokratie

So ist es mit der Demokratie und Europa: Wer von uns aus, im „Süden“ der Welt, das Meer betrachtet, sieht Europa. Für einen Schriftsteller ist es ein Gedicht von Borges oder eine hinreißende Metapher. Für einen illegalen Einwanderer, der auf gutes Wetter wartet, um nach Spanien zu rudern, liegt alles in diesen wenigen Worten, und zwar ein für alle Mal: Das Meer ist Europa, also die Freiheit, ein Jenseits das man erreichen kann, ohne gestorben zu sein, das Anderswo, Flucht, Unendlichkeit, Sex ohne Sünde, Swingen und Voyeurismus, Reichtum.

Europa bleibt eine Demokratie, aber ohne es zu wissen. Das ist die letzte Laune seiner Schönheit. Eine Art von Unschuld, die nervt und zur Grausamkeit wird. Aber wir im „Süden“ wissen es: Wir können Demokratie definieren. Wenn ich nach Europa eingeladen werde, dann übrigens, um die Essenz der Demokratie besser zum Ausdruck zu bringen. Weil ich aus der kosmischen Barbarei der restlichen Welt komme, weil ich den Preis der Demokratie kenne und weiß, wo sie beginnt und wo sie endet. Weil ein aufmerksamer und diskreter Voyeur mehr zu erzählen hat als ein Swinger, der damit beschäftigt ist, andere zu streicheln oder zu beißen. Und in diesem Fall geht die Metapher noch weiter: Eine der größten Bedrohungen für Europa wäre es, wenn man diesen bedeutenden Ort nicht mehr begehren würde.

Deshalb sollten wir für die liberale europäische Demokratie plädieren. Für uns Menschen aus dem „Süden“, aus den Diktaturen, ist sie der einzige Ort, zu dem wir schwimmen können, wenn unsere Länder zusammenbrechen. Und es ist der einzige Ort, an dem wir lautstark verkünden können, dass es keine Demokratie gibt, ohne von der Diktatur verhaftet zu werden, die sich selbst gerne als Demokratie ausgibt. Zum Wohle der Demokratie sollten wir uns also die Aufgaben teilen: Ihr müsst an ihr zweifeln, um sie zu verbessern, und ich muss daran glauben, dass sie bei euch existiert, um hoffen zu können, dass es sie eines Tages auch bei mir geben wird. Denn im Moment ist in der sogenannten „arabischen“ Welt der einzig mögliche Swingerclub das himmlische Paradies. Und das kommt erst nach dem Tod oder dem Mord. Eurem oder meinem. 

Europa hat sich jahrhundertelang ausgedehnt. Durch Kolonialisierung und die Erfindung der Universalität. Heutzutage zieht es sich in Schuldzuweisungen und Entschuldigungen zurück. Es sind die „Barbaren“, die sich ihm aufdrängen, um es von seinen einst überlegenen Überzeugungen zu bekehren. Verfügt der Europäer über eine Seele oder eine Tiernatur? Ist seine Nacktheit unanständige Primitivität? Soll man ihn verschleiern oder enthüllen? Muss er bekehrt und umerzogen werden?

Wir wissen alle, dass solche Geschichten über unkonventionelles Kennenlernen für einen der Beteiligten meistens sehr böse enden. Europa wirkt vor allem wie eine Insel. Ob es Grenzen hat, spielt keine Rolle. Wenn man es betrachtet, blickt man auf das ganze Meer. Was man sich mit der guten und bösen Absicht des demokratischen Aktivisten aus dem „Süden“, mit der Naivität und der zu leistenden Anstrengung erträumen würde, ist, dass Europa überall ist. Es soll der Beweis dafür bleiben, dass das andere Ufer existiert. Die illegalen Migranten aus dem Maghreb blicken auf das Meer, wie die Gläubigen in den Himmel starren – mit derselben trügerischen Hoffnung.

Liebe Lana Bastašić, Drago Jančar, Oksana Sabuschko, natürlich ist dies keine Antwort. Die erste Regel für einen Voyeur lautet, zu schweigen.

Kamel Daoud, Oran (Algerien), 15. Mai 2023

Dieser Brief gehört zu den „Letters on Democracy“, einem Projekt im Rahmen des 4. Forum on European Culture, das im Juni 2023 in Amsterdam stattfindet. Das von De Balie organisierte Forum konzentriert sich auf die Bedeutung und die Zukunft der Demokratie in Europa und bringt Künstler, Aktivisten und Intellektuelle zusammen, um die Demokratie als Ausdruck der Kultur und nicht der Politik zu erkunden.
Im Rahmen der „Letters on Democracy“ entwerfen fünf Schriftsteller in einer Reihe von fünf Briefen, deren erster von Arnon Grunberg stammt, Visionen für die Zukunft Europas. Die Schriftsteller Arnon Grunberg, Drago Jančar, Lana Bastašić, Oksana Sabuschko und Kamel Daoud treffen sich während des Forums zu einem Gespräch über das Europa, das vor uns liegt, und die Rolle des Schriftstellers darin.

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