Christelle Taraud: Das Feminizid-Kontinuum, „eine gegen Frauen gerichtete Kriegsmaschine”

Dinge zu benennen, bedeutet, ihnen eine Existenz zu geben. Die Historikerin Christelle Taraud tut das, indem sie der Geschichte der Wörter „Feminizid” und „Femizid” nachgeht: von den 1970er-Jahren in Brüssel, über die Frauenmorde in Mexiko in den 1980er-Jahren bis hin zur heutigen #MeToo-Debatte. Francesca Barca (Voxeurop) und Céline Mouzon (Alternatives Economiques) haben mit ihr über den Unterschied zwischen diesen beiden Begriffen gesprochen.

Veröffentlicht am 5 März 2024 um 12:28
Christelle Taraud La Decouverte

Christelle Taraud, Historikerin und Feministin, ist Mitglied des Zentrums für Geschichte des 21. Jahrhunderts (Centre d'histoire du XIXe siècle, Paris 1/Paris 4 - Sorbonne). Sie ist Spezialistin für Fragen zu Geschlecht und Sexualität(en) in kolonialen Räumen und Herausgeberin des Essais Féminicides. Une histoire mondiale (La Découverte, 2022).

Das Wort „Feminizid” wird mittlerweile häufig verwendet. Wie lässt es sich definieren?

Christelle Taraud: Feminizid ist meiner Meinung nach „die Hinrichtung einer Frau, weil sie eine Frau ist”. Der Ursprung des Begriffs geht auf das Jahr 1976 zurück, als feministische Aktivistinnen und Forscherinnen aus etwa 40 Ländern in Brüssel zusammenkamen und das erste internationale Tribunal für Verbrechen gegen Frauen organisierten. 

Der in Südafrika geborenen und in den USA lebenden Soziologin Diana E. H. Russell wird der erste Gebrauch des Begriffes „Femizid” zugeschrieben. Er wurde aus dem Begriff „Homizid” abgeleitet und bedeutet, dass eine Frau getötet wird, weil sie eine Frau ist. Da jedoch nicht alle Morde an Frauen Femizide sind, muss die patriarchale Dimension beweisbar sein. Dieses Verbrechen, das aus Hass verübt wird, ist laut Russell nämlich nur die Spitze eines gewaltigen Systems zur psychischen und physischen Zerstörung von Frauen, das man als globales patriarchales System definieren kann, welches jedoch je nach Epoche, Kontext und Gesellschaft unterschiedlich ausgeprägt ist.

Es gibt also einen Unterschied zwischen „Femizid” und „Feminizid”...

Als die Aktivistinnen Brüssel verließen, nahmen sie das Konzept des Fimizids mit. In einigen Teilen der Welt (Lateinamerika, Karibik, Nordeuropa) wurde es schnell angenommen, in anderen (USA, Kanada, Westeuropa) jedoch weitaus weniger. 

In Mexiko tauchten Ende der 1980er-Jahre zunächst vermeintliche Einzelfälle von Frauenmorden auf. An der Grenze zu den USA, einer der gefährlichsten Gegenden der Welt, in der sich extreme Formen des Kapitalismus entwickeln, mit Zulieferbetrieben, in denen schreckliche Arbeitsbedingungen herrschen und in der Drogenkartelle ihr Unwesen treiben, begannen Frauen plötzlich zu verschwinden. Angesichts der Untätigkeit der mexikanischen Polizei und ihres „Victim Blaming” forderten die Familien Rechenschaft, bilden Kollektive und machen Journalisten und feministische Forscherinnen auf sich aufmerksam. Dabei stellen sie fest, dass der Begriff „Femizid” nicht geeignet war, um die Situation in Mexiko zu beschreiben und zu analysieren, da es sich nicht um individuelle Hassverbrechen handelte, sondern um ein Massenphänomen. Daraufhin wurde der Begriff „Feminizid” geboren, der der mexikanischen Anthropologin und Politikerin Marcela Lagarde y de los Ríos zugeschrieben wird. 

Ihrer Meinung nach ist „Femizid” mit Mord verbunden, während der „Feminizid” im Zusammenhang mit Genozid gedacht wird. 

Lagarde nennt vier Elemente, um den „Feminizid” zu charakterisieren: 

  1. Es handelt sich um ein kollektives Verbrechen, das potenziell die gesamte mexikanische Gesellschaft einschließt;
  2. Feminizid ist ein Massenverbrechen (in „normalen” Zeiten gibt es in Mexiko mindestens zehn Feminizide pro Tag); 
  3. Feminizid ist ein Staatsverbrechen. Wie andere Staaten auch, sind der mexikanische Staat und seine Institutionen (Polizei, Justiz, Gefängnis) patriarchalisch organisiert: Sie geben den Opfern die Schuld, weigern sich, die Verbrechen zu untersuchen, und manche Polizisten sind sogar Täter von Frauenmorden;
  4.  bei Feminiziden, so Lagarde, handelt es sich um ein Verbrechen mit Genozid-Tendenz. 

Sie sprach damals nicht von „Völkermord”, denn Anfang der 1990er-Jahre hatten die „Genocide Studies” noch nicht das gleiche Gewicht wie heute. Damals bezog sich der Begriff „Völkermord” noch fast ausschließlich auf den Holocaust und innerhalb des Holocaust auf den Judenmord. In den 1990er-Jahren entwickelten sich dann Studien zu anderen Völkermorden, auch aus einer vergleichenden Perspektive. Zur gleichen Zeit wurde auch begonnen, häufiger über den Völkermord an den Armeniern zu sprechen, und es waren neue Völkermorde im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda im Gange. In diesem Zusammenhang verwendet Lagarde auch den Begriff der „Nekropolitik”, der von dem kamerunischen Politikwissenschaftler Achille Mbembe geprägt wurde, und den Begriff des „Overkill”, der in der Kriminologie verwendet wird.

Was lässt sich mit den Konzepten der Nekropolitik und des Overkills erklären?

Fast alle Frauen, die in Mexiko ermordet und deren Leichen gefunden wurden, was eine forensische Analyse zumindest teilweise möglich macht, wurden auf unterschiedliche Weise getötet: Sie wurden beispielsweise zusammengeschlagen und erwürgt, was jedoch nicht so häufig vorkam. Oft wurden sie misshandelt, ohne dass dies für den Tod notwendig gewesen wäre. Zum Beispiel in Form von sexuellen Übergriffen oder mehrfachen Eindringens in ihren Körper, auch mit stumpfen Gegenständen. Auch die Verstümmelung des Fortpflanzungs- und Geschlechtsapparats war häufig. Vielen Frauen wurden die Gesichter zerstört, sodass eine Identifizierung durch Gesichtserkennung unmöglich war. Oder sie wurden geköpft, zerstückelt, verbrannt oder mit Säure verätzt. 


„Man wird Feminizide nicht stoppen, wenn man sich nicht bewusst macht, was sie überhaupt erst möglich macht, nämlich die strukturellen Ungleichheiten und die damit verbundene Straflosigkeit“


Dies zeigt, dass nicht nur der Körper dieser Frauen angegriffen wurde, sondern auch ihre Identität, also die weibliche Identität. Dies betraf und betrifft noch immer sowohl Cis- als auch Transgender-Frauen, denn in diesem großen Grenzgebiet gibt es viele Sexarbeiterinnen, die beides sein können. Der Feminizid ist also ein Verbrechen aus Hass gegen die weibliche Identität, der wiederum ein Produkt der Nekropolitik ist – einer Politik des Todes, die stärker als das Leben ist und die vom Staat in dem Bestreben orchestriert wird, Territorien – in diesem Fall Frauen – zu kontrollieren.

Dies ist weit entfernt von der Definition, die in Frankreich und in den meisten europäischen Ländern verwendet wird. Der Hinweis auf den Genozid-Charakter fehlt in unserem Verständnis.  

Es gibt nur sehr wenige Personen, selbst in feministischen Kreisen, die sich für die Genealogie dieses Konzepts interessiert haben. Die öffentliche Meinung in Westeuropa begann, das Wort „Feminizid” zu verwenden, ohne den früheren Begriff „Femizid” zu benutzen. Sie haben einfach eine Etappe übersprungen, im Gegensatz zu Nordeuropa, wo man eher von Femizid spricht. Der Begriff Femizid kam mit der #MeToo-Bewegung wieder auf, allerdings nicht in den USA, sondern in Lateinamerika. Wir haben dann die beiden Begriffe in Europa zu einem gemacht. 

In Frankreich und Europa wird also der Begriff Feminizid verwendet, um eigentlich einen Femizid zu bezeichnen. Obwohl ich der Meinung bin, dass man den Ursprung und die Geschichte von Wörtern kennen sollte, bin ich jedoch nicht besonders daran interessiert, sich unbedingt für einen Begriff zu entscheiden. Es ist das Phänomen als Ganzes, das zu benennen mir wichtig ist, weshalb ich lieber von einem „Feminizid-Kontinuum” spreche.


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Was den von Marcela Lagarde y de los Rios in seiner ursprünglichen Definition erwähnten Völkermordcharakter betrifft, so ist dieser nicht nur auf die Situation in Mexiko oder generell in Amerika anwendbar. Ein Femizid – obwohl er Teil eines unbestreitbaren Systems der Unterdrückung von Frauen ist- kann auch eine „Einzeltat” sein, aber Hunderte von „Femiziden” ergeben einen „Feminizid”, also notwendigerweise ein Massenverbrechen.

Diskussionen über die Art und Weise, wie Femizide gezählt werden sollten, gibt es in Frankreich, aber auch in anderen europäischen Ländern. Denn die Tatsache, dass nicht überall auf die gleiche Weise gezählt wird, macht Vergleiche auf europäischer Ebene sehr schwierig. Und wenn man sie vornimmt, ist die Gefahr groß, dass der gemeinsame Nenner sowohl der kleinste als auch der unpolitischste ist. 

Dennoch spricht man beispielsweise in Italien und Spanien von „struktureller Gewalt”, zu der auch der Feminizid gehört, ohne dass man den genozidalen Charakter des Wortes dabei in Betracht zieht. 

Das ist vollkommen richtig. Das Problem ist der Maßstab. Deshalb habe ich den Begriff des „Feminizid-Kontinuums” geprägt, um den systemischen Charakter von Feminiziden aufzuzeigen. Femizid oder Feminizid sind nur die sichtbarste Spitze des „patriarchalen Eisberg.” Mit dem Begriff des „Feminizid-Kontinuums” lässt sich die gesamte Gewalt gegen Frauen von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod erfassen. 

Man wird Feminizide nicht stoppen, wenn man sich nicht bewusst macht, was sie überhaupt erst möglich macht, nämlich die strukturellen Ungleichheiten und die damit verbundene Straflosigkeit. Oder anders gesagt: Kein Mann wird unmittelbar zum Frauenmörder. Dieser Akt ist Teil einer langen Gewaltbiografie. Damit ein Mann eine Frau tötet, weil sie eine Frau ist, muss er sich in einem Umfeld befinden, in dem Gewalt gegen Frauen straffrei ist und in dem der Staat passiv oder sogar aktiv daran mitwirkt. 

Diese Gewalt muss in einer Entwicklung gedacht werden, in der es meiner Meinung nach keine Hierarchie gibt. Ein Mord ist absolut gesehen nicht schlimmer als eine Beleidigung, denn beide entspringen der gleichen tödlichen Logik. Ein Mann, der eine Frau tötet, wird zuvor zahlreiche Gewalttaten begangen haben, die von der Gesellschaft als „akzeptabel” angesehen werden – weil sie alltäglich und banalisiert sind – weshalb er nie verhaftet wurde. Man wird diese Gewalt als „Mikroaggressionen” bezeichnet haben.

Frauen sind übrigens oft die ersten, die sie verharmlosen. „Ich wurde wieder einmal auf der Straße als ‘dreckige Hure’ beschimpft. Ich habe nichts gesagt, weil ich es eilig hatte, ich kann nicht ständig Krieg führen, ich hatte Angst …”. Wie die große kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood betont, haben „Männer Angst davor, dass Frauen sie auslachen, während Frauen vor allem Angst haben, von ihnen getötet zu werden.” Männer sind daran gewöhnt, Frauen anzugreifen, indem sie sie beleidigen oder ohne ihr Einverständnis berühren, in der Schule, am Arbeitsplatz oder auf der Straße. Männer sind auch an die Kultur des Inzests und der Vergewaltigung gewöhnt ... Das führt dazu, dass Männer sich im letzten Schritt selbst dazu ermächtigen, Frauen zu töten. All das wird durch unseren kulturellen Kontext verstärkt, ob legal oder illegal, von der Literatur über das Kino bis hin zur Pornografie. Das ist eine richtige Kriegsmaschine, die gegen Frauen gerichtet ist.

Was können wir tun, um etwas zu ändern?

Auf lange Sicht müssen wir aus der Logik der Unterdrückung/Bestrafung ausbrechen, denn sie ist patriarchalisch. Der wichtigste Wert hegemonialer Männlichkeit ist Gewalt, daran muss immer wieder erinnert werden. Das Ende dieser repressiven Logik darf jedoch nicht auf Kosten der Opfer – und ihrer Familien – gehen, sondern muss in dem ständigen Bemühen um Wiedergutmachung erfolgen, die Voraussetzung für den individuellen und kollektiven Wiederaufbau ist. Denn wir wissen, dass eine Verschärfung der Haftstrafen das Problem nicht lösen wird. Zumal die repressive Politik häufig von kulturalistischen und rassistischen Diskursen begleitet wird, die mit dem Finger auf bestimmte Männer zeigen und nicht auf andere. Im 19. Jahrhundert wurden in Europa weiße Proletarier stigmatisiert. Heute ist es das neue, rassisierte Proletariat. Das ist sehr bequem und außerdem wird so vermieden, über die Gewalt der herrschenden Klassen zu sprechen und an den systemischen Charakter des „feminizidalen Kontinuums” anzuknüpfen: Alle Altersklassen, alle ethnisch-konfessionellen Kategorien, alle sozialen Milieus und natürlich alle Berufsfelder sind betroffen.

Kurzfristig gesehen ist am wichtigsten, dass den Frauen geglaubt wird und sie geschützt werden. Das bedeutet einen völligen Paradigmenwechsel. Denn noch immer ist Vergewaltigung das einzige Verbrechen, bei dem sich das Opfer ständig erklären muss. Wenn Ihnen Ihr Mobiltelefon gestohlen wird, fragt niemand, unter welchen Bedingungen das passiert ist. Bei Vergewaltigungsopfern hingegen wird nach dem Kontext gefragt, ob sie Drogen oder Alkohol genommen haben, ob sie einen Partner hatten, wie sie gekleidet waren, wann sie draußen waren, wo sie sich befanden usw. Die meisten Vergewaltigungsopfer wissen überhaupt nicht, was sie tun sollen. 

Wie kann man von kurzfristigen zu langfristigen Maßnahmen übergehen?

Ich glaube vor allem an Frauen in der Politik. Natürlich sind wir nicht „von Natur aus” wohlwollend. Aber unsere geschlechtsspezifische Sozialisation macht uns mächtig: Seit jeher haben wir gelernt, Fürsorge zu tragen. Das macht uns zu sozialeren Wesen als Männer im Allgemeinen. In diesem Sinne bedeutet das Eintreten für eine Frauenpolitik die Förderung einer wohlwollenderen, empathischeren und inklusiveren Gesellschaft.

Meiner Meinung nach ist dies die einzige Möglichkeit, lebensfähige Gesellschaften hervorzubringen. Indem ich das sage, stelle ich eine Verbindung zwischen Feminizid und Ökozid her. Frauen waren in gewisser Weise die ersten Kolonien, denn die Menschheit entwickelte sich, als die Männer begannen, die Macht über den Bauch der Frauen zu übernehmen. Das war die erste Grenze. Alle anderen Machtregime sind eine Erweiterung dieser elementaren Matrix, einschließlich der rassistischen und kapitalistischen Gewalt. Bevor es menschliche Gesellschaften im engeren Sinne gab – also bevor es Kasten, Klassen und Rassen gab – hat es Gewalt gegen Frauen gegeben, und das seit den Anfängen der Menschheit. 

In Partnerschaft mit der European Data Journalism Network

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