Analyse Rechtsstaatlichkeit und Korruption

Wie wird Europa weiter damit umgehen?

Seit Jahren stellt die ungarische Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán die europäischen Institutionen in Brüssel auf die Probe. Wird Europa es wagen, im Kontext des spaltenden Krieges in der Ukraine Ungarn den Geldhahn zuzudrehen?

Veröffentlicht am 31 August 2022 um 12:26

Die Kritiker der ungarischen Regierung können auf viele Verstöße gegen europäische Werte und Regeln verweisen: Sie reichen vom Verbot der Aufklärung über LGBT-Themen an Schulen über die Beschneidung der Unabhängigkeit von Medien und Justiz bis zur Zweckentfremdung von EU-Geldern.

Den ungarische Regierungschef Viktor Orbán lässt die Kritik kalt. Seine Fidesz-Partei, die seit 2010 ununterbrochen an der Macht ist, errang bei den Wahlen im April zum vierten Mal die parlamentarische Mehrheit. Obwohl eine Niederlage dieses Mal möglich schien, konnte die rechtsnationale Partei ihre Macht mit 52,5 Prozent der Stimmen und etwas mehr als zwei Dritteln der Sitze im Parlament tatsächlich ausbauen.

Die Autoren des Länderberichts Ungarn 2021 der Sustainable Governance Indicators (SGI) der Bertelsmann Stiftung werfen der Fidesz-Regierung allerdings vor, dass sie unfaire Wahlbedingungen geschaffen habe. Die Opposition wurde kleingehalten, indem ihre Parteien weniger Finanzierung erhielten und der politische Einfluss der Regierung auf die Medien zunahm. Darüber hinaus wurden die Kommunen, von denen viele Bastionen der Opposition sind, geschwächt und die Zensur mit der Kriminalisierung von „Fake News“ und Panikmache verschärft.

Doch Orbán sieht die Legitimität seiner Regierung einmal mehr bestätigt. Bei einem Auftritt in der Wahlnacht prahlte er: „Wir haben einen so großen Sieg errungen, dass man es vom Mond aus sehen kann – und ganz bestimmt auch von Brüssel aus.“

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Sein Sieg bringt die europäischen Institutionen in eine heikle Situation, nun da sie ernsthaft erwägen, Ungarn den Zugang zu EU-Mitteln zu verwehren. Ein neu geschaffener sogenannter Rechtsstaatlichkeitsmechanismus ermöglicht es der EU, Ländern, die Gelder zweckentfremden, die Mittel zu entziehen. Bis vor Kurzem haben die Eurokraten von diesem Machtinstrument keinen Gebrauch gemacht, vielleicht um sich nicht dem Vorwurf der Einmischung in die ungarischen Wahlen auszusetzen.

Entscheiden muss die Europäische Kommission außerdem noch, ob sie Ungarns Wiederaufbauplan genehmigt und fast 17 Milliarden Euro an Zuschüssen und Darlehen aus dem Corona-Wiederaufbaufonds „Next Generation EU“ auszahlt. Der SGI-Bericht warnt, die Post-COVID-Mittel der EU könnten dazu führen, dass sich „die Kumpane der Regierung bereichern“ und der finanzpolitische Handlungsspielraum künftiger Regierungen eingeschränkt werde.

Die EU-Institutionen sind nun zwischen zwei Notwendigkeiten gefangen: den Willen des ungarischen Volkes zu respektieren und die Interessen der gesamten Bevölkerung, das heißt aller 447 Millionen EU-Bürger, zu schützen.

EU will härter gegen Unterschlagung und Korruption vorgehen

Allen EU-Steuerzahlern muss die Europäische Kommission dienen, indem sie „den Haushalt der Union vor Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit schützt, die die wirtschaftliche Haushaltsführung der Union oder den Schutz ihrer finanziellen Interessen beeinträchtigen.“ Im Klartext: Unabhängig vom Wahlsieg der Fidesz kann die EU-Exekutive nicht dulden, dass EU-Gelder der Korruption zum Opfer fallen und in die Taschen von Gefolgsmännern fließen.

Kritiker argumentieren jedoch, dass die Korruption angesichts Ungarns starke Wirtschaftsleistung und des Vertrauens der Investoren kaum ein lähmendes Problem darstelle und außerdem andere EU-Länder in der Region möglicherweise noch viel korrupter seien.

Einem Land die EU-Mittel zu entziehen, ist eine folgenschwere Entscheidung und in jedem Fall hochpolitisch. Auf das mitteleuropäische Land kämen radikale Veränderungen zu, da die EU-Förderung Nettotransfers in Höhe von etwa 2 Prozent des ungarischen BIP vorsieht. Das sind Milliarden von Euro, die einen erheblichen Teil der öffentlichen Ausgaben ausmachen.

Während die Kommission in alleiniger Entscheidung die ungarischen Corona-Wiederaufbauhilfen blockieren kann, wäre für einen generellen Entzug der EU-Finanzmittel die Unterstützung einer Supermajorität erforderlich: 55 Prozent der EU-Staaten, die mindestens 65 Prozent der Bevölkerung der EU vertreten, müssten einem solchen Vorschlag zustimmen. Ohne die Unterstützung mindestens eines großen westeuropäischen Mitgliedstaates ist das praktisch unmöglich.

Massive Mittelkürzungen für Ungarn eher unwahrscheinlich

Möglicherweise bahnt sich ein klassischer Brüsseler Kompromiss an. „Wir sehen Anzeichen dafür, dass die ungarische Regierung bereit ist, Schritte in die richtige Richtung zu unternehmen. Minister Gergely Gulyás hat Anfang des Monats ankündigt, dass die Regierung bestimmte Bedingungen akzeptiere“, erklärte Zsuzsanna Vegh, wissenschaftliche Mitarbeiterin des European Council on Foreign Relations, im Juli. „Es ist jedoch sehr fraglich, ob es sich dabei um mehr als nur kosmetische Änderungen handeln wird.“

Bei der Auslösung des Rechtsstaatlichkeitsmechanismus im April hatte der EU-Kommissar für Haushalt und Verwaltung, Johannes Hahn, angekündigt, dass der Entzug der Mittel „streng proportional zu den Auswirkungen des Verstoßes auf den Unionshaushalt“ sein werde. Dies scheint darauf hinzudeuten, dass eine drastische Kürzung von Mitteln nicht zu erwarten ist.

Der Streit zwischen Ungarn und der EU hat sowohl eine ideologische als auch eine geopolitische Dimension. Spätestens seit 2014 verkündet Orbán, er wolle eine Alternative zur westlich liberalen Demokratie aufbauen. So sagte er in einer wegweisenden Rede vor der ungarischen Minderheit im siebenbürgischen Kurort Băile Tușnad: „Die ungarische Nation ist nicht einfach eine Ansammlung von Individuen, sondern eine Gemeinschaft, die organisiert, gestärkt und entwickelt werden muss. In diesem Sinne ist der neue Staat, den wir aufbauen, ein illiberaler Staat, ein nicht-liberaler Staat.“

Am nächsten kommt Orbáns Vision dem Modell der illiberalen Demokratie in Singapur, das ebenfalls kommunitäre und familialistische Züge trägt. Die Regierungen in Ungarn wie in Singapur haben sich für eine Erhöhung der Geburtenrate eingesetzt, heterosexuelle Familien besonders gefördert und versucht, Veränderungen in der ethnischen Zusammensetzung ihrer jeweiligen Länder zu verhindern. Der vielleicht wichtigste Unterschied ist Singapurs Nulltoleranz-Politik gegenüber der Korruption. Davon kann man in Ungarn nichts sehen.

Geopolitisch verkompliziert sich die Lage für Ungarn dadurch, dass es gezwungen ist, ein konstruktives EU-Mitgliedsland zu bleiben – auch nach Russlands Einmarsch in die Ukraine im Februar. Orbán wurde zum Teil wegen des Slogans „Ungarn zuerst“ wiedergewählt. Viele Ungarn erwarten, dass er sie vor einer Verwicklung in den Krieg und seinen negativen Folgen, vor allem für die Energiepreise, bewahrt.

Die Regierung Orbán wird wahrscheinlich weiterhin gegen jede wichtige EU-Initiative ihr Veto einlegen – seien es Sanktionen gegen Russland, eine EU-Körperschaftssteuer oder eine eventuelle Reform der EU-Verträge – bis Ungarn nicht mehr im finanziellen Fadenkreuz der Kommission steht. Die EU-Sanktionen gegen russisches Öl wurden nur verabschiedet, weil Ungarn de facto von ihnen ausgeschlossen wurde.

Die Tschechische Republik, die in der zweiten Hälfte dieses Jahres die EU-Ratspräsidentschaft innehat, könnte eine vermittelnde Haltung einnehmen. In einem Gastbeitrag betonte der tschechische Premierminister Peter Fiala, dass er die Meinungsvielfalt innerhalb der EU als Stärke betrachte und die tschechische Ratspräsidentschaft „immer versuchen wird, alle in den Diskussionen geäußerten Ansichten sorgfältig zu berücksichtigen.“

Dies könnte sich als schwierig erweisen. Erst kürzlich empörten sich viele Menschen im In- und Ausland über eine Rede Orbáns, in der er behauptete, dass die Ungarn „nicht zu einer gemischten Rasse werden wollen“ und dass multikulturelle westeuropäische Länder „keine Nationen mehr sind.“ Außerdem forderte er Friedensgespräche zwischen Kiew und Moskau, die Reduzierung der Militärhilfe für die Ukraine und die Abkehr von den Sanktionen gegen Russland.

Trotz dieser verbalen Entgleisungen ist es sehr unwahrscheinlich, dass die EU Ungarn das Stimmrecht entzieht – dazu wäre die Einstimmigkeit aller 26 anderen Staaten erforderlich – und Fidesz wird mit ziemlicher Sicherheit mindestens weitere vier Jahre an der Macht bleiben. Es muss ein Modus Vivendi gefunden werden, der den Willen des ungarischen Volkes respektiert, die europäischen Steuerzahler schützt und die EU als geopolitischen Akteur nicht lähmt.

In einer Welt, die durch den Krieg in der Ukraine, die Energieabhängigkeit von Russland und eine manchmal instabile USA gekennzeichnet ist, ist Spaltung ein Luxus, den sich Europa nicht leisten kann.


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