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Der Krieg Russlands gegen die Ukraine, Finnland und ich

Der brutale Angriff Russlands auf die Ukraine hat in Finnland riesige Veränderungen in Gang gesetzt. Der Zugverkehr zwischen Helsinki und St. Petersburg wurde eingestellt, die Grenzüberquerung erschwert und Finnland ist der NATO beigetreten. Wegen ausbleibender Holzimporte aus Russland werden nun auch die Wälder in Rekordgeschwindigkeit abgeholzt, erklärt die finnische Autorin Rosa Liksom.

Veröffentlicht am 1 September 2022 um 14:35

Ich bin im Westen von Finnisch Lappland geboren und aufgewachsen. Die Nähe der schwedischen Grenze sorgte dafür, dass ich mich an eine liberale Kultur und Weltanschauung band. Als Teenager ging ich zu Fuß über die Brücke auf die andere Seite des Grenzflusses, um mir im wohlhabenderen Schweden trendige Klamotten, Pop-LPs und amerikanische Modezeitschriften zu kaufen.

Mein Interesse für unseren östlichen Nachbarn entstand dann völlig überraschend in den 1970er Jahren. Ich war fünfzehn, als ich zum ersten Mal ans Eismeer fuhr, in die Großstadt Murmansk. Ich war begeistert von der Stadt, von der russischen Sprache und von den Menschen, die mir sehr vertraut und zugleich sehr fremd vorkamen. In den 1980er Jahren studierte ich in Moskau und reiste durch die Sowjetunion, später durch Russland. Außerdem habe ich drei Bücher geschrieben, die in Russland spielen. Die Ereignisse in der Sowjetunion und in Russland zu verfolgen ist seit den 70er Jahren Bestandteil meines Alltags. 

Die letzten Jahre der Amtszeit von Leonid Breschnew als Generalsekräter der Kommunistischen Partei waren eine schreckliche Zeit. In Moskau herrschte ein so schlimmer Mangel an Lebensmitteln, dass sich die Menschen buchstäblich um das letzte gefrorene Hühnchen im Lebensmittelladen prügelten. 

Die kurze Ära von Gorbatschow an der Spitze der Sowjetunion weckte bei vielen meiner sowjetischen Freunde und Freundinnen den Glauben an die Zukunft. In der Zeit von Glasnost und Perestroika wurden die Archive geöffnet, und die Opfer des Gulag, die überlebt hatten, fanden Gehör. Endlich konnte man über die Umweltkatastrophen, den Staatsterrorismus, die Korruption und die Verfälschung der Wirtschaft, die es während der totalitären Sowjetherrschaft gegeben hatte, sprechen. Gorbatschow betonte zeitlebens die Bedeutung des Dialogs. In einem Interview am Vorabend seines 90. Geburtstages sagte er, ohne einen echten Dialog zwischen US-Präsident Joe Biden und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin würden wir uns bald mitten in einem Atomkrieg befinden.

1988 bekam ich als bildende Künstlerin eine Einladung nach Moskau, um an einer Ausstellung Moskauer Underground-Künstler:innen teilzunehmen. Die Schau wurde in einer riesigen Fabrikhalle aufgebaut in den Außenbezirken von Moskau, die den Namen „Neue Eremitage“ erhielt. Die Leute standen stundenlang Schlange, um die gezeigten Werke zu sehen. Die Installationen der Moskauer Künstler:innen, die vom Sowjetleben erzählten, und ihre vor Energie berstenden expressionistischen Bilder sprengten mein Bewusstsein. Meine Auffassung von der Sowjetkunst änderte sich total. Die meisten Künstler:innen, die an der Ausstellung beteiligt waren, werden heute dem Kanon der westlichen Kunst zugeordnet.

Nach Boris Jelzins Machtantritt änderte sich etwas. Einige meiner russischen Bekannten wurden Multimillionäre, andere lebten in großer Armut. Die Straßen in Moskau wurden zu Basaren, auf denen man Uran, einen Auftragsmörder und abgetretene Pantoffeln kaufen konnte, oder auch Tropfen, die einen Frosch in einen Prinzen verwandelten. In jenen Jahren stiegen die Schriftsteller- und Künstlergenerationen, die der Sowjetvergangenheit kritisch gegenübergestanden hatten, an die Spitze des Kulturlebens auf. Die Vielfalt der Kunst blühte. 


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Bei seinem Rücktritt zur Jahrtausendwende ernannte Jelzin überraschend den unbekannten FSB-Direktor Wladimir Putin zu seinem Nachfolger. Einige meiner Bekannten hofften damals, Putin würde sich als Präsident erweisen, der mit dem Chaos und der Kleptokratie, die in Russland herrschten, Schluss machen und Ordnung in die Gesellschaft bringen würde. Andere Bekannte hingegen waren entsetzt, weil Putin Methoden des Geheimdienstes in die Regierung des Staates einführte. 

Seit dem Zweiten Weltkrieg hat die finnische Staatsführung, ganz gleich, wer gerade Präsident oder wie die Regierung jeweils zusammengesetzt war, darauf verzichtet, die politische Lage in unserem Nachbarland scharf zu kritisieren. Gute Beziehungen zu allen Nachbarn bilden den Ausgangspunkt der finnischen Außenpolitik. Dabei wird in den außenpolitischen Bemühungen besonderer Wert auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit  gelegt, und diese will man nicht mit Auseinandersetzungen über Menschenrechte belasten. In der langen und vielfältigen Gesichte als Nachbar Russlands hat man in Finnland so Manches gelernt. Bisweilen ist man unterschiedlicher Meinung, dann wieder geht man Hand in Hand, entweder aus eigenem Willen oder unter Druck. 

Finnland und die Sowjetunion – später dann Russland – fingen nach dem Zweiten Weltkrieg an, wirtschaftliche Beziehungen aufzubauen, von denen beide Länder profitiertierten. Finnische Unternehmen dehnten ihre Aktivitäten auf Russland aus, wo ihnen billige Rohstoffe und billige Arbeitskräfte zur Verfügung standen. Die reiche Bevölkerung aus der Region um St. Petersburg kaufte sich in Ostfinnland Ferienhäuser und die Finnen im Gegenzug Wohnimmobilein als Geldanlage in St. Petersburg. Vor allem in Lappland und Ostfinnland blühte der Tourismus dank russischer  Einkaufsreisender und Urlauber.

Es wurden neue Grenzübergänge gebaut und eine schnelle Zugverbindung zwischen Helsinki und Sankt Petersburg eröffnet. Russen zogen nach Finnland, um zu arbeiten oder zu studieren, und es entstand ein fast hunderttausendköpfige russischsprachige Minderheit in unserem Land. Junge Leute aus Finnland gingen an die Hochschulen und Universitäten von St. Petersburg und Moskau, die kulturellen und wissenschaftlichen Beziehungen funktionierten. Nach dem Zerfall der Sowjetunion kehrte die Grenze zwischen Finnland und Russland in den vitalen Zustand zurück, den sie vor der Russischen Revolution von 1917 gehabt hatte. 


Wenn die Russ:innen nur noch in Putins Einflussbereich eingeschlossen sind, besteht das Risiko, dass in Russland das geschieht, was in der Weimarer Republik passierte


Putins erste Jahre als Präsident ließen die Bürger:innen Russlands hoffen. Dann aber fanden im Jahr 1999 Sprengstoffanschläge auf Moskau Wohnhäuser statt. Putin gab den Tschetschenen dafür die Schuld und begann den Tschetschenienkrieg, der zu einer blutigen und brutalen Tragödie wurde. Später wiederholte sich die gleiche Aggression in Georgien, in Syrien, auf der Krim und nun in der gesamten Ukraine.  

Die Gedankenwelt von Präsident Putin ist schwer zu fassen. Er spricht schon lange über die Schande, die sich mit dem Verlust der russischen Großmachtstellung verbinde, von den Versprechen, die der Westen gebrochen habe, und behauptet, laut einem Anfang der 1990er Jahre geschlossenen Vertrag hätte die NATO nicht nach Osten erweitert werden dürfen. Russland hat eine Vergangenheit als Großmacht, und die meisten Russ:innen sind zu Patriote:innen erzogen worden. Vielen von ihnen fällt es schwer, den jetzigen Status Russlands in der globalen Wirtschaft und in der Weltpolitik zu akzeptieren. Entgegen Putins Willen hat die Ukraine erklärt, sowohl der EU, als auch dem westlichen Militärpakt beitreten zu wollen. Putin hingegen betrachtet die Ukraine als Bestandteil Russlands. 

Als Russland im Februar diesen Jahres seine Kriegshandlungen in der Ukraine radikal ausdehnte, nahm die politische Führung unseres Landes sehr schnell Verhandlungen  über einen Beitritt zum Nordatlantischen Verteidungsbündnis auf. Die enorme Eile überraschte mich. Die einen freuten sich über die getroffene Beitrittsentscheidung, die anderen nicht. 

Stolz bündnisfrei

Bis dahin hatte sich Finnland als Friedensunterhändler vermarktet, und wir waren stolz auf unsere militärische Bündnisfreiheit gewesesn. Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine aber unterstützte plötzlich die Mehrheit der Finn:innen einen NATO-Beitritt. Diese Wende überraschte mich ebenfalls, denn noch einen Monat zuvor war mehr als die Hälfte der Bevölkerung gegen eine NATO-Mitgliedschaft gewesen.

Der brutale russische Angriff Russlands auf die Ukraine hat in Finnland riesige Veränderungen in Gang gesetzt. Wegen des Boykotts, der Sanktionen und sonstigen Einschränkungen war die oben beschriebene Ära ab dem Februar 2022 Vergangenheit. Der Zugverkehr zwischen Helsinki und St. Petersburg wurde eingestellt, der Grenzübertritt erschwert. Finnische Unternehmen verkauften ihre russischen Niederlassungen an Russen. 

Die steigenden Energiepreise, die Verteuerung der Lebensmittel, die Inflation setzen den Menschen in Finnland und ganz Europa zu. Besonders schmerzlich ist, dass jetzt in Rekordgeschwindigkeit finnische Wälder gerodet werden. Früher hat man in großen Mengen Holz für die holzverarabeitende Industrie aus Russland eingeführt. Da diese Industrie derzeit kein Holz in Russland kaufen kann, muss sie die entsprechende Menge aus dem eigenen Land beziehen. Das führt zu einer so umfassenden Zerstörung unserer Wälder, dass sie den von der EU erteilten verpflichtenden Auftrag zur Kohlenstoffsenke der finnischen Wälder gefährdet. 

Für die 35 000 in Finnland lebenden Menschen, die sowohl die russische als auch die finnische Staatsbürgerschaft besitzen, ist die politische Lage prekär. Sollte sie sich weiter zuspitzen, kann es sein, dass ihnen die Doppelstaatsbürgerschaft Probleme bereitet. 

Ich hatte damit gerechnet, dass Russland unverzüglich und äußerst aggressiv auf den finnischen Antrag zur NATO-Mitgliedschaft reagieren würde. Putins gemäßigte Haltung gegenüber der Entscheidung Finnlands überraschte mich daher, zumal Putin immer betont hatte, wie wichtig die militärische Neutralität Finnlands sei. Nun wird die 1340 km lange Grenze zwischen Finnland und Russland zur Grenze zwischen Russland und der NATO. 


Wenn die Russ:innen nur noch in Putins Einflussbereich eingeschlossen sind, besteht das Risiko, dass in Russland das geschieht, was in der Weimarer Republik passierte.


Ich kann die NATO unmöglich als friedensfördernden Militärpakt sehen. Durch den Beitritt Finnlands und Schwedens ändert sich die militärische Bedeutung der Ostsee, die wir lange „Meer des Friedens“ genannt haben, total. Es wird mehr Seestreitkräfte von Russland und NATO in der Ostsee geben. Ich befüchte außerdem, dass Finnland bei einem Atomkrieg als Grenzstaat an die vorderste Front gerät. 

Derzeit zeigt sich auch uns in Europa der Klimawandel in Form von Waldbränden, Hitzewellen, Trockenheit und zerstörten Ernten. Überdies bewegt sich in Finnland, Europa und der USA die Wirtschauft auf die Rezession zu, ganze Staaten und Völker können es durchaus mit der Angst zu tun bekommen. Das Ende des fröhlichen Konsums, wachsende Unsicherheit und mehrfache Krisen geben dem konservativen Populismus Nahrung. Zwar hat die Geschichte gezeigt, dass das schwarzweiße Weltbild und die einfachen Lösungen für komplizierte Probleme, wie sie populistische Politiker anbieten, zu nichts Gutem führen. Trotzdem befindet sich der Rechtspopulismus stark im Aufschwung. Leider haben die Menschen ein kurzes Gedächtnis. Es werden dieselben Fehler wiederholt, in der Erwartung anderer Resultate.

Im derzeitigen Krisenstau hat sich die westliche Welt von Russland isoliert. Die russische Regierung wiederum cancelt ihre eigenen Bürger:innen, wenn sie gegen den Krieg sind und für die Demokratie kämpfen.

Am meisten Sorgen bereitet mir die Entscheidung von Finnland und der EU, die wissenschaftlichen und kulturellen Beziehungen mit Russland abzubrechen. Deswegen ist zum Beispiel ein Besuch von mir an der Universität von St. Petersburg abesagt worden, und mit dem in Moskau angesiedelten Dokumentarprojekt, das ich mehrere Jahre lang vorbereitet habe, ist es ebenfalls vorbei.

Das finnische Außenministerium empfiehlt, nicht nach Russland zu reisen. Ich denke, dass der Abbruch der wissenschaftlichen und kulturellen Beziehungen nur der Regierung Putins dient, weil er dessen Bestrebung verstärkt, Russland von der Diversität und den Menschenrechten in „Homo-Europa“ abzugrenzen.

Verbunden trotz der Unterschiede

Wenn die Russ:innen nur noch in Putins Einflussbereich eingeschlossen sind, besteht das Risiko, dass in Russland das geschieht, was in der Weimarer Republik passierte. Wenn wir Mauern zwischen Menschen errichten und das russische Volk vom übrigen Europa isolieren, können die Folgen düster sein.

Jeder Krieg, ob von kurzer oder langer Dauer, hat bislang mit einem Friedensabkommen  und dem folgenden Wiederaufbau geendet. Je höher wir die Mauer zwischen dem 144-Millionen-Volk unseres Grenznachbarn Russland und dem übrigen Euroa bauen, desto länger wird der Verhandlungstisch, an dem wir die Friedensverhandlungen aufnehmen.

Literatur, Kunst und Forschung besitzen die einzigartige Fähigkeit, Menschen, die in unterschiedlichen Wirklichkeiten leben, einander näher zu bringen, und eine Brücke zum Frieden zu bauen. Um dieses schwierige Thema geht es in meinem Roman Abteil Nr. 6, der in einem Zug der Transsibirischen Eisenbahn spielt, und in Juho Kuosmanens gleichnamigem Film. Abteil Nr. 6 erzählt davon, wie eine Verbindung zwischen Menschen trotz aller kultureller Unterschiede, Ängste und Abneigungen möglich ist.

Die Geschichte fängt damit an, dass zwei Menschen, eine junge finnische Frau und ein russischer Mann, zwei Wochen im selben engen Zugabteil verbringen müssen. Anfangs empfinden sie tiefen Widerwillen gegeneinander. Beide denken, dass sie nichts gemeinsam haben. Aber als sie nach diversen Feindseligkeiten zum Dialog finden, kommen sie sich allmählich näher und fangen sogar an, sich zu verstehen. Ich wünsche mir, dass ein ähnlicher Austausch zwischen Russland, der Ukraine und den westlichen Ländern entstehen wird. 

In Zusammenarbeit mit S. Fischer Stiftung

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