Fischer auf Rügen, Deutschland (Flickr.com/garibaldi)

Baltischer Blues

Seit einigen Jahren ist die Ostsee das Binnenmeer der Europäischen Union. Doch um welche Art Meer handelt es sich eigentlich? Seicht, abgeschlossen und arm ist sie. Sie spaltet mehr als sie verbindet. In wirtschaftlichen und ökologischen Fragen liegt die Zukunft der baltischen Staaten in der Zusammenarbeit mit den Nachbarstaaten und mit der EU.

Veröffentlicht am 17 August 2009 um 15:27
Fischer auf Rügen, Deutschland (Flickr.com/garibaldi)

Bis vor relativ kurzer Zeit war die Ostsee noch ein einfacher See. Eine plötzliche Klimaerwärmung vor etwa 10.000 Jahren brachte die Gletscher des eingefrorenen Nordeuropas zum Schmelzen und ließ den Meeresspiegel des Atlantiks um einige Dutzende Meter ansteigen. Das reichte aus: Der Ozean schwappte zur Ostsee über und schuf dort eines der jüngsten Meere der Welt. Ursprünglich war die Ostsee damals viel breiter und deckte auch große Teile Schwedens und Finnlands ab. Von dort zog sie sich erst zurück, als die riesigen Eismassen geschmolzen waren und Skandinavien, welches bis dahin unter dem gewaltigen Gewicht des Eises begraben war, immer weiter in die Höhe stieg.

Das ist also das Meer, welches fünf Jahre lang das innere Becken der EU war. Doch noch immer bezeichnet es ein jeder, wie es ihm gefällt. Was für die Deutschen und Skandinavier die Ostsee, bzw. Östersjön ist, nennen die Esten Läänemeri oder West-See. Die Letten, Russen und Litauen, aber auch die Briten und Franzosen, und ihrem Beispiel folgend der Rest der Welt, nennen sie "Baltic".

Vom Altertum bis ins 17. Jahrhundert hatte die Ostsee immer einige im Trend liegende Exportprodukte: Bernstein, Sklaven, Salzhering, Holz für den Schiffbau. Wie alle anderen Schätze des Ostseebeckens (Getreide, Wachs, Pelze) wurde auch der Hering von der Hanse verschifft, dem Handelsverband, dem in der Ost- und Nordsee über hundert Häfen gehörten. Im 17. Jahrhundert versuchte Schweden die gesamte Ostseeküste zu erobern. Doch seinem Traum von der Ostsee als schwedischem Binnenmeer machten die Niederlagen in den zwei wichtigsten Schlachten gegen Russland einen Strich durch die Rechnung.

Interesse auf Gegenseitigkeit

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Heute verfolgen die neun Ostseeländer ausschließlich dann gemeinsame Interessen, wenn es um darum geht, die Umwelt zu schützen. Im Kampf gegen den jedes Jahr in die Ostsee geworfenen Müll verbinden sie sich gemeinschaftlich. Glücklicherweise verbessert sich der Zustand des Meeres zunehmend und auch die Anzahl der Fische steigt stets an. Zudem nimmt die durch Stickstoff- und Phosphormischungen verursachte Überdüngung des Wassers fortwährend ab. Derartige Verbindungen können das Algenwachstum explodieren lassen, welches wiederum riesige Sauerstoffmassen absorbieren, wenn sie sich zersetzen. 2002 machte die Blaualge aus der Ostsee eine grüne Suppe, welche die Seehund-Bevölkerung stark schwächte.

"Dass der Stickstoff- und Phosphorgehalt nicht mehr ansteigt ist eine wirklich schöne Überraschung", sagt Professor Fredrik Wulff der Stockholmer Universität. Im Auftrag der Helcom, des Helsinki-Komitees, welches die Umweltbedingungen der Ostsee überwacht, hat er Forschungen angestellt und herausgefunden, dass die Phosphorverschmutzung im letzten Jahr (verglichen mit 2007) 3.000 Tonnen weniger betrug und die Stickstoffemissionen sogar um 50.000 Tonnen gesunken sind.

"Der Rückgang der Verschmutzungen, insbesondere des extrem gesundheitsschädlichen Phosphors, verdanken wir den neuen Abfall verwertenden Pflanzen in den Flussbecken der Weichsel und der Oder", erklärt Professor Wulff.

Auch die Miesmuscheln (Mytilus edulis), Frankreichs beliebter moules, können die Wasserqualität der Ostsee verbessern. Feinschmecker haben von den Miesmuscheln der Ostsee allerdings nicht wirklich viel, weil sie zu klein sind. Doch hindert ihre kleine Größe nichts daran, dass die Miesmuschel der Ostsee als Mikro-Aufbereitungspflanze wirkt, die Phosphor und Stickstoff aufnimmt. Wenn die Bedingungen gut sind, so kann eine einzige Muschel jede Stunde bis zu neun Liter Wasser filtern. Eine Muschelfarm produziert alle acht Monate 500 Tonnen Muscheln, die etwa eine Million Kubikmeter Wasser filtern können, d. h. das Wasser in 25 Hektar Umgebung wird gereinigt und fünf Tonnen Stickstoff und 300 kg Phosphor aufgenommen.

Alle Hoffnungen auf die EU gesetzt

Nicht weniger als acht verschiedene Währungen sind um Ostseeraum im Umlauf. Nur Deutschland und Finnland haben bisher den Euro eingeführt. Insgesamt betrachtet schneidet die Wirtschaft des Baltikums schlechter ab, als die Kaliforniens. Allein Schweden macht ein Fünftel ihres Gesamtpotenziales aus und Stockholm ist das führende Finanzzentrum. Obendrein sind die Ufer der Ostsee die am geringsten bewohnten Gebiete Europas. Es mangelt an wichtigen Häfen und großen Städten. Selbst wenn man Stockholm, Helsinki, Kopenhagen, Dreistadt (eine städtische Fläche in Polen mit den drei Zentren Gdańsk (Danzig), Gdynia (Gdingen) und Sopot (Zoppot)), Riga und Tallinn zusammennimmt, so sind sie zusammen immer noch kleiner als Sankt Petersburg allein. Zudem "nimmt das hier ansässige Wirtschaftsleben die Region gar nicht wirklich wahr. Für skandinavische Unternehmen ist die Gegend hier noch immer unbedeutender als die USA oder China. Die Wahrscheinlichkeit ist viel grösser, dass sie sich dort nach Partnern umsehen", erklärt Mikael R. Linwaldholm, ein dänischer Unternehmensexperte für Innovation und soziale Kommunikation.

In dieser Lage setzt man alle Hoffnungen für die Zukunft des Ostseeraums auf die Europäische Union. Die Europäische Kommission hat gerade erst ihre Strategie für das Baltikum bekanntgegeben. Es handelt sich um ein Entwicklungsprogramm für die gesamte Region, welches ihr zu mehr Vermögen, Sicherheit, Sauberkeit und Verkehrsanbindung verhelfen soll. Die Intiative hört sich gewagt an, vor allem weil weder zusätzliche Finanzmittel zur Verfügung stehen, noch gesetzliche Veränderungen oder neue Institutionen geplant sind.

Eine Strategie für die Ostsee

"Vor allem will man Kapitalmittel zweckgebunden für Projekte verwenden, die bereits im Gange sind", erklärt Hans Brask, der Direktor des Baltischen Entwicklungsforums (Baltic Development Forum). Auch soll es keinerlei Kürzungen für das über 50 Milliarden Euro betragende Budget geben, welches die EU für das Baltikum für den Zeitraum von 2007 bis 2013 geplant hat. Ungefähr zehn Milliarden werden für die Umwelt ausgegeben werden, sechs Milliarden für Innovationen und Wettbewerbsfähigkeit. Etwa 700 Millionen wurden bereitgestellt, um die regionale Sicherheit zu verbessern. Auf der Agenda steht auch die Schaffung eines baltischen Energiemarktes, der durch die Entwicklung von Pipelines und Stromleitungen ermöglicht werden soll, welche die verschiedenen Regionen der einzelnen Länder miteinander verbinden sollen.

Wenn der Plan aufgeht, so wird er die Länder von ihrer Energie isolierten Position erlösen: Litauen, Lettland und Estland. Deren Energieversorgungsnetze sind momentan nur mit Russland vernetzt. Nicht weniger als 27 Millionen Euro wurden für die Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur vorgesehen, ganz besonders in Polen, Litauen, Lettland und Estland. Den Skandinaviern sind Probleme in diesem Sektor völlig unbekannt. Sie haben sowohl Autobahnen als auch eine Brücke zwischen Kopenhagen und Malmö, und denken momentan sogar darüber nach, eine andere Brücke zu errichten, sowie einen Tunnel von Helsinki nach Tallinn zu bauen. Jedoch erwähnt man dieses Projekt aus strategischen Gründen nicht, schließlich handelt es sich um den längsten und teuersten Tunnel der Welt. Vermutlich werden die Pläne noch einige Zeit auf den Bürotischen der Tunnelbauer liegenbleiben. Was man strategisch aber sehr wohl erwähnt, ist die Rail Baltica, eine Eisenbahn, die mit der berühmten Via Baltica Autobahn vergleichbar ist.

Schon 2013 soll sie Warschau und Tallinn miteinander verbinden. Zu einem Zeitpunkt, an dem die Welt eigentlich zu Hochgeschwindigkeitszügen übergeht, wirft einen die geplante Leistung der Rail Baltica, die mit einer Geschwindigkeit von 120 km pro Stunde fahren soll, keineswegs um. Erinnern wir uns also lieber daran, dass eine Zugfahrt von Warschau nach Tallinn heutzutage 36 Stunden dauert. Von Warschau nach Vilnius braucht man 15 Stunden. Im Jahr 1939 legte der Vilnius Express-Zug diese Strecke in fünf Stunden und 45 Minuten zurück. Doch allein die Europäische Union kann dem Ostseeraum wirklich dabei helfen, nach Jahrhunderten eine neue baltische Gemeinschaft zu bilden.

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