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Barroso, wenn der Tag lang ist...

Die erste Rede von EU-Kommissionspräsident Barroso zur Lage der Union wurde mit Spannung erwartet. Während sich die EU langsam von der Krise erholt, fehlt es an einer Vision, bedauert die europäische Presse.

Veröffentlicht am 8 September 2010 um 14:43

Die Übung war neu, der Inhalt weniger. Am 7. September hielt José Manuel Barroso vor dem Europäischen Parlament in Straßburg seine erste Rede zur Lage der Union. Ein Novum, das mit dem Vertrag in Lissabon in Kraft getreten ist. "Die Erwartungen an den Kommissionspräsident waren hoch", schreibt La Croix.

"Nach monatelanger Kritik an seiner passiven Haltung während der Wirtschaftskrise und dem Fast-Bankrott Griechenlands, wurde sein Initiativenkatalog für den kommenden Herbst von den EU-Parlamentariern in Straßburg eher wohlwollend aufgenommen", meint die französische Tageszeitung. Doch für De Volkskrant handelt es sich bei der Rede "um einen weiteren faden Maßnahmenkatalog. [...] Sein Ziel jedenfalls hat Barroso mit seinem Wortschwall verfehlt."

Barroso mimt Obama...

"Anstatt sich zur Lage der Union zu äußern, wurde uns eine Wirtschaftsstrategie verkauft", urteilt ihrerseits La Libre Belgique. Das Blatt verweist insbesondere auf "das Comeback einer Idee, die schon vor langem von Jacques Delors vorgeschlagen, aber von Deutschland verhindert wurde, nämlich Infrastrukturvorhaben mit EU-Anleihen über die Europäische Investitionsbank zu finanzieren." Mit einem Wort, für die Tageszeitung aus Brüssel war es ein "Vintage-Barroso", der vor die EU-Parlamentarier getreten ist.

Die EU wollte, betont El País, "das mehr als zweihundert Jahre alte Ritual" der Rede des amerikanischen Präsidenten zur Lage der Nation "nachahmen". Auf seinem Blog der Financial Times schreibt der Kolumnist Gideon Rachman, dass Barroso "den Wahlkampf-Obama mimt, um als ebenbürtiger Partner des Weißen Hauses ernst genommen zu werden." Sicher, meint Polska, gebe es Ähnlichkeiten zwischen Barack Obama und Barroso: "Beide kämpfen für einen Konjunkturaufschwung ihrer Wirtschaften, beide wollen das Vertrauen in ihre Führungsqualitäten wieder herstellen." Doch "die Deklarationen des amerikanischen Präsidenten werden zu Gesetzestexten, während die meisten Deklarationen Barrosos sich auf die Analyse der Situation und auf fromme Wünsche reduzieren", bemerkt Dziennik Gazeta Prawna.

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...verliert sich aber in Grabenkämpfen...

Wirklich, berichtet De Volkskrant, "ist vom eigentlich vorgesehen Text seiner Rede auf Druck der Kommissionsmitglieder (von denen jeder seine eigene Botschaft zum Besten geben wollte) und der Spitzenfunktionäre nicht viel übrig geblieben." Zwar "träumt die Brüsseler Elite von Einheit, und nicht von 27 Einzelgängern", doch zeigten die Demonstrationen in Frankreich und der jüngste U-Bahn-Streik in London, dass dies "eben nur ein Traum sei." Folglich, führt Dziennik Gazeta Prawna fort, "befindet sich die Brüsseler Bürokratie in der Defensive. Die Nationen sind es, die die Richtung zur Integration vorgeben." Und wie Público aus Lissabon anmerkt: "Die mit Spannung erwartete Rede hat die EU-Abgeordneten nicht beeindruckt. Sie wollten eine klare Strategie hören, wie die EU aus den wachsenden zwischenstaatlichen Streitigkeiten herauskommt."

"Schwimmen wir oder gehen wir unter? ", fragt Gazeta Wyborcza. "Das Problem Europas ist mit dem Vertrag von Lissabon nicht gelöst worden. Es fehlt an einer starken politischen Führung." In diesem Zusammenhang verheißt die Konkurrenz, die sich die verschiedenen EU-Institutionen (EU-Kommission, Europäischer Rat und Europäisches Parlament) machen, nichts Gutes. "Es ist höchste Zeit, dass die europäischen Institutionen ihre individuellen Ambitionen beiseite legen und beginnen, gemeinsam etwas für Europa zu tun."

...und bleibt der aalglatte, abgehobene Vollzieher

Wurden die europäischen Bürger überhaupt vom Kommissionspräsident berücksichtigt? In seiner Rede zur Lage der Union "verlor er kein Wort darüber, dass der Zuspruch der Menschen für die EU zusammengebrochen ist", notiert Honor Mahony auf seinem Blog des Internetportals EUobserver. "Ein wenig später, nach einer Frage, räumte Barroso in Anspielung auf eine kürzlich erschienen Europa-Studie ein, dass es "Probleme" gäbe, "große Probleme".

Brüssel als Möchtegern-Washington, das lässt den Standard perplex. Der amerikanische Präsident spreche "zum Volk, um ihm die große politische Linie aufzuzeigen". Dass Barroso sich erlaubt, seine live übertragene Rede mit Begrüßungsformeln für Präsidenten und Abgeordnete zu beginnen, ohne ein Grußwort an "meine lieben Mitbürger", bleibe ein "ewiges Geheimnis." "Barroso zeigt sich als aalglatter, abgehobener Vollzieher, der nirgends anstreifen will, das Wort Roma-Abschiebungen meidet, als Mann ohne jede Vision, der vorträgt wie ein mit Textbausteinen übervoller Sprechautomat. Das ist Europas Dilemma. So kann und darf man mit den Bürgern nicht reden." (js)

Analyse

Nicht so schüchtern

"Europa gegen Frankreich", lautet die Schlagzeile des Leitartikels von El País zur massenhaften Ausweisung von Roma aus Frankreich und der schüchternen Reaktion des Kommissionspräsidenten. Die Tageszeitung aus Madrid schätzt, dass José Manuel Barroso "den Kopf in den Wolken" habe, wenn er glaube, dass ein "tränenrühriger Appell, die Gespenster der Vergangenheit ruhen zu lassen" reiche oder seinem Amt gerecht werde. El País vergleicht Barroso und dessen "vergeblichen Appell" mit der "Unnachgiebigkeit" seines Amtsvorgängers Romani Prodi gegenüber dem Österreicher Jörg Haider 1999. Der Vergleich, der umso bedauerlicher ausfällt, da "mit dem Lissabon-Vertrag die Grundrechte-Charta verabschiedet wurde, die für alle Unterzeichner verfassungsbindend ist."

El País kritisiert "die allgemeine Gleichgültigkeit der EU-Institutionen und Abgeordneten angesichts dieser dramatischen Situation", denn die Aktion der französischen Regierung "verletzt mindestens sechs Artikel der neuen Charta." Das Blatt betont, dass die Bewegungsfreiheit der Roma "kein Privileg ist, dass man gewährt oder versagt, je nach Laune des Regierenden. Es handelt sich um ein Grundrecht." Die Zeitung fordert, dass die EU-Exekutive "die französische Initiative untersuchen und alle notwendigen Maßnahmen ergreifen muss."

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