Belgien gestern. Belgien heute.

“Belgien 6.0. Vorbereitung für 7.0.”

Seit 485 Tagen ist das Land ohne Regierung. Am 11. Oktober erklärte der voraussichtliche zukünftige Ministerpräsident Elio die Rupo, dass sich die flämischen und frankophonen Partner auf eine umfassende Staatsreform verständigt hätten. Eine für viele unverhoffte Einigung, die das Land stabilisiert und den Weg aus der Krise öffnet.

Veröffentlicht am 12 Oktober 2011 um 14:58
Belgien gestern. Belgien heute.

Neben der Spaltung des zweisprachigen Wahlkreises Brüssel-Halle-Vilvoorde, welche die Verhandlungen wieder in Gang gebracht hatte, wird in der Vereinbarung der Föderalismus grundlegend umgebaut. Die Regionen (Flandern, das mehr als 50 Prozent der Steuereinnahmen repräsentiert, Wallonien und Brüssel-Hauptstadt) sollen in Fragen der Steuern, des Gesundheitswesens, des Arbeitsmarkts und der Straßenverkehrsordnung mehr Autonomie zugesprochen bekommen. Die Legislaturperiode auf Landesebene wurde von vier auf fünf Jahre verlängert, damit sich das Land nicht mehr in einem quasi permanenten Wahlkampf befindet.

“Meine Damen und Herren, wir haben eine Einigung”, titelt De Morgen, ausnahmsweise auf Französisch. Die flämische Tageszeitung zitiert die Worte, mit denen Di Rupo den ausgehandelten Text mit den wahrscheinlichen Koalitionspartnern verkündet hatte. “Endlich”, schreibt der Chefredakteur des Politikressorts der Zeitung Steven Samyn. ≈

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Ungeben von den acht Verhandlungsführern erklärte der Beauftragte zur Regierungsbildung: “Wir haben eine Einigung erreicht, die unser Land weiter entwickeln und stabilisieren wird.” Man hätte es nicht treffender formulieren können. Die sechste belgische Staatsreform ist eine Weiterentwicklung, keine Revolution. Eine umfassende Staatsreform wandelt den schwerfälligen belgischen Staat in eine Föderalstaat. – De Morgen

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“Endlich!”, jubelt auch La Libre Belgique. In der Brüsseler Tageszeitung zieht der Kolumnist Francis Van de Woestyne seinen Hut für den “wichtigsten Architekten dieser Verhandlungen, Elio Di Rupo”:

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Man kann sich kaum die Energie, die Geduld, das Zuhören und die Kreativität vorstellen, die er aufbringen musste, um dorthin zu gelangen. Nachdem er sich vergeblich mit dem flämischen Nationalisten Bart de Wever um einen Weg aus der Krise bemüht hatte, musste Elio Di Rupo diesmal mit manchmal labilen, manchmal unberechenbaren und manchmal zerstrittenen Partnern umgehen. Zugegeben: Er war der Einzige in diesem Land, welches aufgrund der Egoismen auseinanderzudriften droht, der die Synthese zwischen dem Norden und dem Süden, zwischen links und rechts schaffen konnte. – La Libre Belgique

Für Béatrice Delvaux, Chefredakteurin von Le Soir ist der Sieger, noch vor Di Rupo, in erster Linie Belgien selbst:

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Man erinnere sich, wie sehr man schon nicht mehr daran glaubte. Man erinnere sich, wie oft man meinte, das war’s dann wohl, nicht mehr und nicht weniger, mit Belgien, um sich der Bedeutung des Augenblicks bewusst zu werden. Belgien! Allem Anschein nach ist Belgien der Sieger des Tages, durch die bloße Tatsache, dass das Land immer noch existiert, bereit, seinen Weg weiterzugehen. Belgien, ja, aber ein anderes: Nun liegen die Antriebe des Landes in den Regionen und den Gemeinschaften. Das Überleben des Landes als Ganzes erscheint hypothetisch. Wir müssen aber anerkennen, dass diesem alten Gebilde, welches mit dem Tod geflirtet hat, eine wundersame und raffinierte Mutation gelungen ist. Es wurde geduldig ein geschicktes Gleichgewicht geschaffen, das allen Beteiligten Grund zur Zufriedenheit gibt. ... Doch sollten wir uns nicht darüber hinwegtäuschen lassen: Die Staatsreform begräbt eine bestimmte Form des föderalen Belgiens. Viele sind überzeugt, auch wenn sie es nicht wünschen, dass dies noch nicht die letzte Szene des Films war. In diesem Sinne ist der große Triumphator genau derjenige, der nicht auf dem Familienfoto ist: Bart De Wever. Dem Chef der Nationalisten ist es letztlich gelungen, alle von seinem Ziel zu überzeugen: Belgien macht nicht mehr (viel) Sinn. – Le Soir

Im Standaard findet zu guter Letzt Guy Tegenbos in seinem Leitartikel die Bezeichnung der Staatsreform als “Einigung mit Fliege” sogar “hübsch”. Anders sieht es aber beim Inhalt aus:

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Das Abkommen, welches der Mann mit der Fliege, Elio Di Rupo, gestern vorstellte ist eine typisch belgische Staatsreform. In dieser sechsten gibt es, wie in der fünften auch, seitenweise Vereinbarungen. Aber keine Linie. Die Reform entspricht keiner gemeinsamen Vision. Sie entstand aus dem Aufeinanderprallen zweier Visionen, die sich im Grunde in keinem Punkt einig sind. Es bedurfte großer Anstrengungen, um zufälligerweise ein paar Fetzen zu finden, auf die beide Seiten sich einigen konnten. Das nähte man dann zusammen wie einen Flickenteppich. [...] Di Rupo hat sein Mission Impossible geschafft, doch ist das neue Belgien weder erstaunlich noch aufregend. Ein Belgien 6.0. Vorbereitung für 7.0. ... Ein Waffenstillstand, der beiden Seiten frankophonen und Flamen ein bisschen von dem gibt, was sie wollen und mit dem sie sich eine Weile abfinden können. (js) – De Standaard

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